In der KZ-Gedenkstätte Mauthausen haben am Sonntag laut Veranstalterangaben mehr als zehntausend Menschen der Befreiung des Konzentrationslagers durch die US-Armee gedacht. Mit dabei war auch die Jugend der Israelitischen Kultusgemeinde Wien.

Foto: Dagan/IKG honorarfrei

"Wenn euch irgendetwas komisch auffällt, wenn ihr euch unwohl fühlt, ruft uns sofort an, informiert die Sicherheitsleute", sagt Jenny Mitbreit, Leiterin der Jugendabteilung der Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Wien, "und bleibt unbedingt bei euren Kerngruppen." Es ist Sonntag, 6.45 Uhr, und weit über hundert jüdische Jugendliche haben sich um drei Busse im ersten Bezirk versammelt, um gemeinsam zur Befreiungsfeier in der Gedenkstätte Mauthausen zu fahren. Dort wird man mit Delegationen aus aller Welt, der österreichischen Regierung und Teilen der Opposition der Befreiung des Konzentrationslagers durch die US-Armee vor 78 Jahren gedenken.

Busreise nach Mauthausen

In den Bussen sitzen Mitglieder der Jüdischen österreichischen Hochschüler:innenschaft (JÖH), die auch mit der Hochschüler*innenschaft österreichischer Roma und Romnja (HöR) kooperiert, des Club Chai, des sozialistisch zionistischen Hashomer Hazair, der religiösen Organisationen Jad Bejad und Bnei-Akiva, des an Schulen aktiven Dialogprogramms Likrat sowie Teile der Jewish Russian Speaking Community Vienna. Nachdem der Doppeldeckerbus, in dem DER STANDARD mitfährt, Wien verlassen hat, wird auf Hebräisch ein Gebet für die Reisenden gesprochen.

Naomi ist 14 und war mit der Schule schon im Februar dort. "Aber heute bin ich schon nervös", erzählt sie im Bus. Denn Naomi ist heuer Teil der Zeremonie der Jugend beim jüdischen Mahnmal auf dem Areal des ehemaligen KZ. Diese findet noch vor dem Einzug der Überlebenden, der Vertreter verschiedener Staaten und Opfergruppen statt. Angelehnt an das Motto der 78. Befreiungsfeier in Mauthausen – "Zivilcourage" – haben die Jugendlichen Texte über den Widerstand vorbereitet. Naomi, die wie der 15-jährige Shai das weiße Hemd von Bnei-Akiva trägt, spricht über die kommunistische Widerstandskämpferin Marianne Baum, den Widerstandskämpfer Herbert Baum und über Sophie Scholl.

Regierungsverantwortliche von Bund und Land gedachten auf dem ehemaligen Appellplatz in der Gedenkstätte Mauthausen der vielen Menschen, die Opfer der Nazigräuel wurden.
Foto: APA/WERNER KERSCHBAUMMAYR

"Ziviler Widerstand"

Auf der Wiese neben der Skulptur der großen Menora, vor dem israelischen Botschafter Mordechai Rodgold, dem Oberkantor Shmuel Barzilai, dem Vizepräsidenten der IKG Michael Galibov und der Leiterin der KZ-Gedenkstätte Barbara Glück, merkt man Naomi und Shai keine Nervosität an. Sie betonen, wie wichtig der zivile Widerstand im Holocaust war, welchen großen Beitrag Menschen geleistet haben, die "trotz brutaler Misshandlung" gekämpft, den Alliierten geholfen und dies mit dem Leben bezahlt haben. Teil der Zeremonie ist auch ein Rollenspiel, in dem sie mit anderen Jungen zeigen, wie man mit antisemitischen Beschimpfungen im Alltag umgeht.

Der 19-jährige Benya, der mit seinen Schläfenlocken und der Kippa, die er stets trägt, besonders oft Anfeindungen ausgesetzt ist, erzählt im Bus: "Freunde und Familie sagen oft, ich soll halt keine Kippa tragen, wenn ich nicht will, dass mir das passiert, aber ich finde das eher schockierend". Anders als Naomi und Shai ist er "als Jude erkennbar", wie er sagt. Einmal habe er es ausprobiert und seine Locken versteckt: "Ich bin mir unsichtbar vorgekommen." Benya hat schon als Kind Selbstverteidigung gelernt. Antisemitismus erlebe er von allen Seiten: rechts, links und von Islamisten.

Viele junge Menschen waren am Sonntag vor Ort und gedachten der Opfer, teils auch ihrer Vorfahren.
Foto: LEONHARD FOEGER

Benya hat letztes Jahr in Wien maturiert und macht nun unter anderem in Jerusalem eine Ausbildung zum Tourguide. Beim March of the Living in Auschwitz hat er Überlebende für ein Projekt interviewt. Was ihm alle gesagt haben, war: "Das Wichtigste ist, dass man alle Menschen respektiert, man muss nicht alle lieben, aber respektieren, dann wäre es nie zum Holocaust gekommen." Um die 80 Verwandte von Benja sind in Auschwitz ermordet worden: "Dort zu gehen heißt, auf der Asche meiner Familie zu gehen. Das war wirklich ein sehr heftiges Gefühl. Es ist meine Verantwortung, den Leuten Zivilcourage zu zeigen, damit das nie wieder passiert."

Vorurteile abbauen

"Mein Urgroßvater war hier in Mauthausen, und sein Vater ist noch auf dem Transport verstorben", erzählt der 18-jährige Berci dem STANDARD auf dem Weg hinauf zu den ehemaligen Baracken. Bercis Vorfahren stammten aus Ungarn, sein Opa überlebte. Berci selbst kam als Kind vor neun Jahren aus Ungarn nach Wien. Seine Eltern wanderten wegen Orbán aus. In Mauthausen zu gedenken heiße für ihn: "Verantwortung gegenüber denen, die aus dem Lager nicht mehr rausgekommen sind. Ich muss kämpfen, dass das nie mehr wieder passiert." Berci geht mit dem Dialogprogramm Likrat in Schulen, um Jugendlichen vom Judentum zu erzählen und Vorurteile abzubauen. Auch in Polizeischulen: "Was man da alles hört, ist schon interessant, da gibt es noch viel zu tun." Es sei wichtig, dass sich genug Leute gegen einen Rechtsruck wehren, meint Berci.

Auch die Überlebenden Evgeny Khrol und Shaul Spielmann nahmen an der Feier teil. Der Vorsitzende des Mauthausen Komitees Österreich Willi Mernyi und der evangelische Bischof Michael Chalupka fordern den Mut ein, Zivilcourage zu zeigen und Nein zu Ausgrenzung zu sagen. Die Jungen der IKG Wien haben sich teilweise Israel-Fahnen umgehängt und ziehen vor der 1.500 Menschen zählenden italienischen Delegation ein. Unter den Augen der halben Bundesregierung tragen sie die Erinnerung an ihre Vorfahren auf das Areal. Selbstbewusst und entschlossen. (Colette M. Schmidt, 7.5.2023)