Die Zuschauerinnen und Zuschauer gehen in der Produktion ganz auf Tuchfühlung. Es wird nicht nur geglotzt, sondern mitgefühlt.

Foto: Lorenz Tröbinger

Als wäre man auf einem Filmset und hätte sich als stumme Zeugin in die Szenen geschlichen: Die Wiener Gruppe Nesterval saugt im Stück Die Namenlosen das Publikum erneut in eine unheimliche Geschichte ein. Sie handelt von der Verfolgung homosexueller Menschen durch die Nazis in Wien ab 1939. Im Brut in der Nordwestbahn-Dependance folgt man zwei Dutzend Figuren aus dieser Zeit, die sich lose um die Porzellanfabrik der Familie Nesterval scharen.

Dafür bietet die Gruppe um Regisseur Martin Finnland viel auf: Nachdem das eigene Mobiltelefon verplombt wurde (Fotografieren untersagt!), taucht man in eine finstere Welt voller Gangschluchten, die man im Gefolge von Charakteren zügig durchstreift, und in der sich hinter schwarzen Vorhängen Fin-de-Siècle-Wohnungen, Geschäftslokale oder eine Polizeistation auftun.

Perfektionierte Immersion

Nesterval haben über die letzten zwölf Jahre die Gattung des Grusel-Mitspielepos für das Sprechtheater perfektioniert. Ob im Sanatorium, auf einer Berghütte oder in einer Prater-Disco – Schauplätze und Set-Design sind bei dem Nestroy-prämierten Kollektiv die halbe Miete.

Diesmal funktioniert das immersive Moment besonders gut, da durch düstere Lichtgebung, einen einlullenden Soundtrack und vor allem das sachte Involvieren des Publikums in die Szenen der Zustand des Eingetaucht-Seins vollends anhält. Die Zuschauerinnen und Zuschauer gehen ganz auf Tuchfühlung. Sie dürfen sich direkt angesprochen fühlen, etwa wenn die erpresste Gattin eines wegen "widernatürlichen Verhaltens" gefolterten und kasernierten Mannes sich im inneren Monolog fragt, ob sie nun Namen verraten soll. Am Schauplatz Kommandantur sitzt das Publikum vor Schreibmaschinen und wird so zum Protokollanten eines von Naziideologie vergifteten Verhörs. Denn Homosexualität galt als Gefahr für die reproduktionsbesessene, frauenunterdrückende "germanische Welt". Über zehntausend Menschen sind wegen Homosexualität in Konzentrationslager deportiert worden.

Zugespitzte Erzählweise

Auf welche Weise sich Männer kennengelernt, wie verdeckt sie ihr homosexuelles Leben geführt haben, welchen Repressionen sie ausgesetzt waren, welche Albträume sie hatten und wie Denunziation vor sich ging – all das lässt sich mitverfolgen, von der Straßenbahnhaltestelle bis zum Fotoatelier. Das erzwingt eine zugespitzte Erzählweise, die ohne Verkürzungen nicht auskommt.

Anders gesagt: Es braucht in dem Drei-Stunden-Panorama Prototypen wie die willenlose Nazisekretärin, den hemmungslosen Polizeikommissar oder den unvorsichtigen Fotografen, der Männer-Pin-up-Fotos vertreibt. Wendungen und Handlungsmanöver sind folglich berechenbar. Bei Die Namenlosen aber geht es nicht um eine ausgeklügelte Storyline, sondern um die Art des involvierenden Erzählens. Es wird nicht nur geglotzt, sondern mitgedacht, mitgelebt, mitgefühlt. (Margarete Affenzeller, 8.5.2023)