Lukas Müller schaffte per pedes 2,35 Kilometer.

Foto: Red Bull Content Pool

"Teilnehmerrekord und Gänsehaut-Momente": So fasst sich die zehnte Auflage des Wings for Life World Run auf ihrer Homepage zusammen. 206.728 Läuferinnen und Läufer aus fast 200 Ländern bedeuteten am Sonntag eine neue Bestmarke, allein in Österreich traten auf 41 Strecken mehr als 52.000 Menschen an, 13.500 von ihnen beim "Flagship Run Wien". Dort sorgte der ehemalige Skispringer Lukas Müller, seit einem Sturz am Kulm am 13. Jänner 2016 inkomplett querschnittsgelähmt, für einen besonders emotionalen Augenblick und ein, wie es hieß, "weltweites Zeichen der Hoffnung".

Müller stand aus seinem Rollstuhl auf und schaffte per pedes 2,35 Kilometer, ehe er vom sogenannten Catcher Car mit Snowboard-Olympiasiegerin Anna Gasser am Steuer eingeholt wurde. "Ich bin komplett fertig", sagte der Kärntner. "Es fühlt sich für mich an, als wäre ich einen Ironman gelaufen. Ich wollte der Welt zeigen, was alles möglich ist und warum es so wichtig ist, dass es Wings for Life und den Wings for Life World Run gibt."

Den Lauf gibt es seit 2014, in seinen zehn Auflagen wurden von mehr als einer Million Teilnehmer knapp 44 Millionen Euro an Spendengeldern gesammelt. Das gesamte Geld floss und fließt in die weltweite Forschungsarbeit auf der Suche nach Heilung von Rückenmarksverletzungen. Ins Leben gerufen wurde die Wings-for-Life-Stiftung von Red-Bull-Gründer Dietrich Mateschitz und dem zweimaligen Motocross-Weltmeister Heinz Kinigadner, dessen Bruder und Sohn, die ebenfalls Motocross fuhren, beide querschnittsgelähmt sind. Geschäftsführerin der Stiftung ist Anita Gerhardter, die Mutter von Mark Mateschitz, der seit dem Tod seines Vaters an der Red-Bull-Konzernspitze steht.

Ausgeklügeltes Format

Der Wings for Life Run folgt einem ausgeklügelten Format, es muss nämlich keine vorgegebene Distanz absolviert werden. Dreißig Minuten nach dem Start geht das "Catcher Car" auf die Strecke, es wird immer schneller und rollt das Feld von hinten auf, so lange, bis alle eingeholt sind. Wer die größte Distanz abgespult hat, hat gewonnen. Das lässt sich weltweit vergleichen, und wer mag, kann sich auch privat mit einer App auf den Weg machen, den holt dann halt kein echtes, sondern ein virtuelles Auto ein. Am Sonntag hat der Japaner Jo Fukuda mit 69 Kilometern seinen Vorjahrssieg verteidigt, Mario Bauernfeind landete als bester Österreicher nach 61,9 Kilometern auf Rang sechs. Bei den Frauen legte die Polin Kasia Szkoda 55 Kilometer zurück, hinter ihr oder eigentlich vor ihr kam Veronika Mutsch (49,8 km) als Zweite an. Kaum ein Red-Bull-Athlet, der sich nicht in den Dienst der guten Sache stellte. Marcel Hirscher lief in den Niederlanden, Stefan Kraft mitten in der Nacht und bei strömendem Regen in Australien, und Ultraläufer Christian Schiester drehte bei tropischen Bedingungen fünf Runden auf einer kleinen Salomonen-Insel.

Massenauflauf auf der Wiener Ringstraße.
Foto: Red Bull Content Pool

Und doch ist nicht die ganze Welt vom Wings for Life Run restlos beglückt. "Sit 'n' Skate", ein gemeinnütziges deutsches Projekt von Rollstuhlfahrern für Rollstuhlfahrer, brachte kürzlich in einem offenen Brief neben Anerkennung auch einige Kritikpunkte an. Die Vision von "Sit 'n' Skate" ist es, die Gesellschaft inklusiver zu gestalten und vorherrschende Vorurteile zu zerstören. Das Projekt veranstaltet regelmäßige Rollstuhl-Skate-Treffen in mehreren deutschen Städten. Warum der Wings-for-Life-Lauf an "Sit 'n' Skate" vorbeigelaufen ist? Die Projektgründer David ("Unfallquerschnitt") und Lisa Lebuser ("angeborener Querschnitt") stoßen sich vor allem daran, dass der WFL-Run das Bild vermittle, die Gesunden würden etwas "für die armen Kranken" tun. Dazu passt in ihren Augen, dass professionelle Rennrollstühle, weil "zu schnell" und also "zu gefährlich", nicht zugelassen seien. Tatsächlich ist es ja so, dass Rennrollstuhlfahrer weit schneller als Läufer sein können – der Schweizer Marcel Hug fixierte 1991 in 1:17:47 Stunden einen Marathonweltrekord, von dem selbst der kenianische Wunderläufer Eliud Kipchoge (2:01:09) sehr weit weg ist.

Realist Müller

Die Lebusers würden sich wünschen, dass sich die Wings-for-Life-Stiftung (auch) für "mehr Barrierefreiheit, bessere Rollstuhlversorgung und ein positives Bild von Rollstuhlfahrern" einsetzt. Denn es werde "nie eine Wunderpille geben, die den Körper auf den Ursprungszustand zurückstellt. Das heißt, wir werden alle noch eine Weile sitzen bleiben." Dieser Einstellung wiederum tritt Lukas Müller ganz entschieden entgegen. "Ich bin Realist genug", sagt er dem STANDARD, "um zu wissen, dass es morgen keine Heilung geben wird. Aber ich bin Optimist genug, um daran zu glauben, dass es eine Heilung geben kann." Würde in die Rückenmarksforschung ähnlich viel wie in die Krebsforschung investiert, so wäre sie laut Müller "schon viel näher dran. Aber da ist halt die Zielgruppe wesentlich kleiner." Auch deshalb bricht Müller gewissermaßen eine Lanze für die Idee und die Vision von Wings for Life und für den Lauf. "Hier wird nicht betont, dass man Querschnittsgelähmten helfen muss, sondern dass man ihnen helfen kann."

Nicht gehen zu können sei in dem Zusammenhang beileibe nicht die einzige und oft nicht die schwerste Einschränkung, mit der Gelähmte umzugehen hätten. "Die Heilung wäre auch gerade deshalb wichtig, weil es so viele unsichtbare Einschränkungen gibt, die die Querschnittslähmung mit sich bringt", sagt Müller. Auch dafür gelte es ein Bewusstsein zu schaffen. "Es herrscht oft eine große Distanz zwischen Leuten im Rollstuhl und Leuten, die nicht im Rollstuhl sitzen. Oft traut sich der eine den anderen nicht anzusprechen." So gesehen sei der Wings-for-Life-Lauf viel mehr als ein Lauf. "Dieser Lauf", sagt Lukas Müller, "ist ein riesiges Vernetzungstreffen, bei dem viele Distanzen überwunden werden." (Fritz Neumann, 8.5.2023)