Erinnern ist mehr als ein Foto: Anna Hackl, Zeitzeugin und unermüdliche Mahnerin mit einem besonderen Zugang zu jungen Menschen.

Werner Dedl

Von dem ursprünglichen kleinen Gehöft in Winden, in dem 1945 Mut und Nächstenliebe neu definiert wurden, ist heute wenig übrig. Die Landwirtschaft ist Geschichte, Stallungen und Heuboden längst geschleift. In einem modernen Anbau lebt der Sohn mit Familie, Anna Hackl selbst wohnt noch in ihrem Elternhaus. Und wenn sich ein Journalist just zur Mittagszeit einfindet, dann muss selbiger damit leben, dass sich die rüstige Pensionistin zwischen den Fragen auch um die "Restlpfanne" auf dem Herd kümmern muss.

STANDARD: Ihr Terminplan ist ganzjährig gut gefüllt mit zahlreichen Vorträgen etwa an Schulen, Anfang Mai kommen dann immer diverse Auftritte rund um die Befreiungsfeiern dazu. Woher nehmen Sie mit 92 Jahren noch diese Kraft und Motivation?

Hackl: Das ist relativ einfach – solange es immer noch Menschen gibt, die sagen: "Es war alles nicht so, es ist alles nicht wahr", werde ich hinausgehen und sagen: "Es war doch so, denn ich war dabei." Und das sollen die jungen Menschen wissen, deswegen gehe ich seit fast 30 Jahren in die Schulen.

STANDARD: Inwieweit schwingt vielleicht auch etwas Angst, dass Ihre persönliche Familiengeschichte in Vergessenheit gerät, mit?

Hackl: Von Angst zu reden wäre übertrieben. Aber sicher, wenn ich einmal nicht mehr sein sollte, wird auch die Geschichte unserer Familie anders weitergegeben werden. Mein Sohn hat die Mühlviertler Hasenjagd nicht erlebt – ich habe es erlebt. Das ist ganz etwas anderes.

STANDARD: Besteht ohne die lebendige Erinnerungserzählung die Gefahr, dass der Holocaust an Schrecken verliert und zu einem bloßen Teil der Geschichte verkommt?

Hackl: Natürlich wird es ohne Zeitzeugen mehr und mehr einfach ein Teil der Geschichte. Nochmals: Ein Gedenken nur mit Büchern und Filmen ist ein anderes. Du kannst dieses Gefühl nicht vermitteln. Wenn ich heute vor einer Schulklasse meine Geschichte erzähle, dann herrscht meist vollkommene Stille im Raum. Das wird es ohne Zeitzeugen in dieser Form nicht mehr geben.

STANDARD: Aktuell erleben wir einen Krieg mitten in Europa, zudem ist ein deutlicher Rechtsruck in der politischen Landschaft spürbar. Beunruhigt Sie so etwas?

Hackl: Da muss ich vorsichtig sein, was ich sage. Aber das "Nie wieder" ist sichtbar brüchiger geworden. Es könnte schon sein, dass es wieder hinüberschwappt. Die Menschen haben aus der Geschichte nichts gelernt, sie werden nicht gescheiter.

STANDARD: Als unermüdliche Mahnerin haben Sie sich wahrscheinlich auch nicht überall beliebt gemacht – gab und gibt es Anfeindungen?

Hackl: Natürlich waren viele nicht begeistert. Und wie dann der Film über die Mühlviertler Hasenjagd, Vor lauter Feigheit gibt es kein Erbarmen von Andreas Gruber, erschienen ist, haben mich manche offen angepöbelt und gesagt: "Hörts doch endlich auf mit dem."

STANDARD: Als der Film über die Menschenhatz vom Februar 1945 am 2. Februar 1995 Premiere hatte, bedankte sich mit dem damaligen Bundespräsidenten Thomas Klestil nach 50 Jahren erstmals das offizielle Österreich bei Ihrer Familie. Warum hat man sich mit dem Gedenken in Österreich so lange so schwergetan?

Hackl: Es war ein Tabuthema. Was leicht zu verstehen ist – weil sich in unserer Umgebung so viel abgespielt hat. Gusen, Mauthausen, Ried in der Riedmark, Schwertberg. Es hat geheißen: "Jagt sie wie die Hasen!", und die Zivilbevölkerung hat mitgeholfen. Man hat halt nach dem Krieg versucht, alles zuzudecken.

STANDARD: Dem aktuellen Antisemitismusbericht des Parlaments zufolge glauben elf Prozent der Gesamtbevölkerung und 40 Prozent der Einwohner mit familiärer Migrationsgeschichte, dass in den Berichten über Konzentrationslager "vieles übertrieben dargestellt" werde. Läuft es Ihnen da nicht kalt über den Rücken hinunter?

Hackl: Die Leute verstehen es einfach nicht. Und vieles wird ja bis heute vertuscht. Aber nochmals: Es war so! Ich habe die Bilder im Kopf, wie die SS den Toten die Füße zusammengebunden hat, damit Pferde sie zu einem Lastwagen ziehen. Es war Winter, und es lag Neuschnee. Die Straße wurde zur Blutstraße. Was will man mir erzählen – ich war 14 Jahre alt und habe es mit eigenen Augen gesehen. Wenn ich solche Umfragen höre, dann beunruhigt mich das. Dieses Verharmlosen ist so gefährlich. Und es kommt mir leider manchmal alles sehr bekannt vor.

STANDARD: Von Ihrer Mutter Maria Langthaler gibt es nur ein Filmdokument – zu sehen ist eine kleine, zierliche, fast schüchtern wirkende Frau. Wie war Ihre Mutter, worauf fußt diese unglaubliche Zivilcourage? Sie hat in diesen blutigen Tagen im Februar 1945 zwei KZ-Häftlingen die Tür geöffnet und sie unter Lebensgefahr drei Monate versteckt, während der Großteil weggeschaut oder sich an der Menschenhatz beteiligt hat. Warum?

Hackl: Meine Mutter war ein sehr gläubiger Mensch. Und dieser Glaube hat sie so stark gemacht. Ich glaube, wenn sie nicht geholfen hätte, hätte sie sich das nie verziehen. Sie hat diese Entscheidung alleine getragen. Mein Vater war zunächst dagegen, aus Angst, dass die ganze Familie umgebracht wird. Die Mutter hat nur gesagt: "Ich bin eine Mutter, ich hab ein Herz im Leibe", und hat Michail und Nikolaj am Heuboden versteckt.

STANDARD: Wie präsent sind Ihre Erinnerungen an die Mühlviertler Hasenjagd?

Hackl: Natürlich sind die Erinnerungen sehr präsent. Vor allem durch die vielen Vorträge in den Schulen. Und diese unglaubliche Angst, die wir damals hatten, werde ich nie vergessen. Wir haben jeden Tag in Todesangst gelebt. Denn wir wären alle dran gewesen, hätte man die beiden bei uns gefunden. Mehrfach wurde unser Haus von der SS und dem Volkssturm durchsucht. Auch mit Hunden. Die haben aber nie angeschlagen. Was für mich bis heute ein unerklärliches Wunder ist.

STANDARD: Ist diese Zivilcourage heute nicht längst verloren gegangen? Sind wir als Gesellschaft nicht egoistischer geworden?

Hackl: Nein, nicht alle. Es gibt noch viele gute Menschen. Vor allem auch unter der heutigen Jugend. (Markus Rohrhofer, 8.5.2023)