Foto: © Philipp Lipiarski

Kaum wo ist die Vergangenheit so präsent, wie in den tausenden Altbauten Wiens. Mit deren Entstehungsgeschichte, ihrem sagenhaften Innenleben und ihrer Bedeutung für die Stadt beschäftigt sich das nun erschienene Fachbuch "Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole".

Das Zinshaus der Gründerzeit (ca. 1840 – 1918) ist Ausdruck von Aufbruch, Innovation und Wandel, aber auch von Kapitalismus, Ausbeutung und Elend von Massen von Arbeiterinnen und Arbeitern um die Jahrhundertwende. Auf die facettenreiche Geschichte dieses Bautypus geht nun ein von der 3SI Immogroup und der Fogarassy Privatstiftung initiiertes Fachbuch in noch nicht dagewesener Weise ein: "Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole" ist vor kurzem im Residenz Verlag erschienen. Für das renommierte AutorInnenteam Dr. Marion Krammer, Dr. Andreas Nierhaus und Dr. Margarethe Szeless schließt die Publikation eine bis dato vorhandene Lücke. "Obwohl die stadtgeschichtliche, kulturelle, architektonische und ökonomische Bedeutung des Wiener Zinshauses offensichtlich ist, wurde seine Geschichte bisher niemals zusammenhängend dargestellt. Dieses Buch nimmt das Wiener Zinshaus aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick", so die AutorInnen in ihrem Vorwort.

Durchdacht konzipiert: Geschäfts-, Lager- und Wohnflächen fanden im Mikrokosmos Zinshaus Platz.
Foto: @Wien Museum/Birgit u Peter Kainz

Der Beginn eines neuen Wien
Als Startschuss für den noch heute sichtbaren Bauboom der Gründerzeit gilt die Schleifung der Stadtmauern samt der Planung der Wiener Ringstraße. Wien war zu Beginn des 19. Jahrhunderts eine der am dichtesten besiedelten Städte Europas. Auf rund 1,4 Quadratkilometern Fläche lebten in diesen Jahrzehnten mehr als 50.000 Menschen, in den folgenden Jahren nahm die Bevölkerungsdichte weiter zu. Ein eklatantes Missverhältnis von Angebot und Nachfrage bei Wohnraum war die Konsequenz, die Stadt selbst stoß infrastrukturell zusehends an ihre Grenzen. In den 1830ern nahmen Überlegungen zur Schleifung der Stadtbefestigungen zur Erweiterung der Stadt immer konkretere Formen an, scheiterten zunächst allerdings am Widerstand des Militärs. Durch die Gewährung von steuerlichen Anreizen und einer Novellierung der Bauordnung 1859 und 1868 wurden zusätzliche Anreize für die rasche Verbauung des Glacis ab den 1860ern geschaffen. Private Investoren waren sowohl im Ringstraßenareal, als auch bei in Folge erschlossenen Bebauungsgebieten außerhalb der Inneren Stadt treibender Motor der Entwicklung. Schon damals galt das Zinshaus als wertbeständige Anlagevariante, die Vermietung von Wohnraum als gute Möglichkeit, Rendite zu erzielen.

Altes musste weichen: Wohnhaus in der Vorstadt, Matzleinsdorfer Straße 52, 1904.
Foto: © August Stauda (Fotograf), 5., Wiedner Hauptstraße 130 (ehem. Matzleinsdorfer Straße 52) – Hofansicht, 1904, Wien Museum Inv.-Nr. 29440
Ludwig Förster (1797-1863) gilt als Vordenker und Erfinder des Bautypus Wiener Zinshaus.
Foto: © Wien Museum/Birgit und Peter Kainz

Das Vorbild Paris
Der Architekt Ludwig Förster (1797-1863), gebürtiger Bayreuther und ab 1818 in Wien ansässig, gilt als Erfinder des modernen Wiener Zinshauses. Seine Vorstellungen über das "Wien der Zukunft" veröffentlichte er in der von ihm gegründeten Allgemeinen Bauzeitung, die als einflussreichstes Fachblatt für Architektur und Ingenieurbau im deutschsprachigen Raum galt. Als Vorbild galten die Pariser Mietshäuser, die zwar im Vergleich zu deutschen Mietshäusern außergewöhnlich klein, in puncto Raumökonomie allerdings nachahmenswert seien. Für Förster, Schwiegervater von Theophil Hansen, der als Architekt neben zahlreichen imposanten Ringstraßenpalais auch für das Parlament und den Heinrichshof gegenüber der Staatsoper verantwortlich zeichnete, war das Zinshaus "ein ökonomisches Phänomen, das mit den Mitteln der Architektur in Form gebracht werden musste", so Autor Andreas Nierhaus.

Das Zinshaus und seine Gesichter
Die reich gegliederten Fassaden – die gerade bei frühen Bauten der Qualität der Ziegel geschuldet waren, die einen entsprechenden Verputz zwingend notwendig machten –, beeindruckende Eingangsportale und Stiegenhäuser, großzügige Raumhöhen zwischen 3,30 und 4,50 Metern zählen zu den typischen Charakteristika der Gründerzeithäuser. Ausstattungsmerkmale, die auch im 21. Jahrhundert noch immer begehrt sind. Doch nicht jedes Zinshaus bot Luxus oder gar außergewöhnlichen Wohnkomfort. So vielfältig die äußerliche Erscheinung der Altbauten noch heute ist, so unterschiedlich war ihre Ausgestaltung im Inneren. Das rasante Anwachsen der Bevölkerung Wiens auf 2 Millionen um 1910 führte zu einer massiven Wohnungsnot, die trotz der beschleunigten Errichtung von Zinshäusern nur schwer gelindert werden konnte. Lebte um die Jahrhundertwende in Wien über ein Drittel der Bevölkerung in Zimmer-Küche-Haushalten, war dies 1917 bereits die Hälfte. Überbelegte Wohnungen mit bis zu 8 Personen auf rund 25 m2, Aftermieter und Bettgeher gehörten zum Alltag. "Häufig täuschte die prunkvolle Fassade eines Zinshauses über die beengten Verhältnisse und das Elend im Inneren hinweg", konstatiert die Historikerin und Autorin Marion Krammer. Dem gegenüber stand großbürgerlicher Wohnraum, hochwertig im bürgerlichen Mietshaus, luxuriös ausgestattet im Wiener Nobelpalais.

Der von Ziegelindustriellem Drasche-Wartinberg Heinrichshof wurde 1945 durch alliierte Bombentreffer teilweise zerstört und in den 1950ern abgerissen
Foto: © Andreas Groll (Fotograf), 1., Opernring 1-5 – Heinrichhof – Baustelle der Staatsoper, nach 1863, Wien Museum Inv.-Nr. 93021/46

Die Gesellschaft habe sich seit dem Ende der Monarchie verändert, die Zinshäuser sind geblieben, so die AutorInnen des von spannenden Fakten strotzenden Fachbuchs "Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole", das von der 3SI Immogroup und der Fogarassy Privatstiftung initiiert wurde. Ihnen gelingt eine faszinierende, informative Rückschau auf die Entstehung und Nutzung eines Bautyps, der besonders die Bundeshauptstadt Wien bis heute prägt.

Foto: © Philipp Lipiarski

Über das Buch
Das Wiener Zinshaus. Bauen für die Metropole
Marion Krammer, Andreas Nierhaus, Margarethe Szeless, Nora Schoeller (Fotos)
Residenz Verlag 2023
ISBN: 978-3701735853

Über die AutorInnen

MARION KRAMMER
geboren 1980, studierte Publizistik, Kunstgeschichte und Russisch. Kuratorin, Foto- und Medienhistorikerin. Mitgründerin von wesearch. Agentur für Geschichte und Kommunikation. Zahlreiche Beiträge zur österreichischen Fotografie und Kulturgeschichte. Im Residenz Verlag zusammen mit Andreas Nierhaus und Margarethe Szeless "Das Wiener Zinshaus" (2023).

ANDREAS NIERHAUS
geboren 1978 in Graz, Studium der Kunstgeschichte und Geschichte in Wien, lehrt seit 2004 am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien. 2005–2008 wissenschaftlicher Mitarbeiter der Kommission für Kunstgeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; seit 2008 Kurator der Architektursammlung des Wien Museums. Forschungsschwerpunkte: Architektur und bildende Kunst vom 19. bis zum 21. Jh. / Architektur und Medialität. Zuletzt erschienen: "Otto Wagner – Meine angebetete Louise" (2019, gemeinsam herausgegeben mit Alfred Pfoser) und "Das Wiener Zinshaus" (2023, zusammen mit Marion Krammer und Margarethe Szeless).

MARGARETHE SZELESS
geboren 1973, Studium der Kunstgeschichte in Wien, Paris und Budapest. Freie Wissenschaftlerin und Mitgründerin von wesearch. Agentur für Geschichte und Kommunikation. Zahlreiche Publikationen zur österreichischen Fotoge schichte und Pressefotografie. Im Residenz Verlag zusammen mit Marion Krammer und Andreas Nierhaus "Das Wiener Zinshaus" (2023).