Inhalte des ballesterer (http://ballesterer.at) #179 (Mai 2023) – Seit 5. Mai im Zeitschriftenhandel und digital im Austria-Kiosk (https://www.kiosk.at/ballesterer)

SCHWERPUNKT: HSV

HAMBURGS SPORTVEREIN

Der HSV zieht heute seine Stärke aus der Verwurzelung in der Stadt

DERBYDOUBLE

Der HSV und seine Rivalen aus Bremen und Sankt Pauli

Außerdem im neuen ballesterer

NIEDERÖSTERREICH UND NIEDERSACHSEN

Wolfsburger Turbo für den SKN Sankt Pölten

AMTSSTUBE AMSTETTEN

Der GAK gewinnt vor Gericht

KINDER DES FEUERS

Pyrotechnikexperimente in Frankreich

KEINE VERTRAGSPARTNER

Ein Pressecorner zum Westfalenstadion

ZWISCHEN GLETSCHERN

Das Derby von Spitzbergen

TURNIER DER JUNTA

Die WM 1978 in Argentinien

CARLO, DER GROSSE

Ein Anstoß zu Carlo Ancelotti

EXILIERT IN WÜRTTEMBERG

Die Liga der Gastarbeiter

DEM VERFALL VERFALLEN

Stadien abseits des modernen Fußballs

FAMILIENMENSCH IM ANGRIFF

WAC-Stürmer Tai Baribo im Porträt

GROUNDHOPPING

Matchberichte aus Deutschland, England, Italien und den USA

Bevor Horst Hrubesch einer der erfolgreichsten deutschen Stürmer wurde, hat er eine Lehre gemacht. Bis er 1975 zu Rot-Weiss Essen in die Bundesliga wechselte, war er Dachdecker und spielte nebenbei Fußball und Handball. "Ich war ja ein Spätstarter", sagt er beim Gespräch im Stadionrestaurant "Die Raute". Seine größten Erfolge feierte der für seine Kopfballstärke gefürchtete Angreifer im HSV-Trikot in den 1980er Jahren. Als Trainer zeichnete er sich in dem Bereich aus, den er selbst ausgelassen hat: im Nachwuchs. Die Freude daran, junge Spieler und Spielerinnen auszubilden und Mannschaften zu formen, habe er auch nach Jahrzehnten am Spielfeldrand nicht verloren, sagt Hrubesch.

ballesterer: Wie überzeugen Sie junge Spieler, zum HSV zu kommen?

Hrubesch: Das ist nicht schwer. Den HSV brauche ich ja nicht erklären. Viele Spieler, gerade aus dem Umland, wollen hier spielen. In den letzten zwei, drei Jahren haben wir gezeigt, dass man bei uns bis nach oben durchkommen kann. Wir haben mit Tim Walter einen Trainer, der den Nachwuchsbereich gut kennt. Unsere U21 ist die jüngste in Deutschland mit vielen 18-, 19-Jährigen, die wir an den Profibereich heranführen. Diesen Weg wollen wir weitergehen. Die Trainer arbeiten gut miteinander, sodass es für die Spieler keine plötzlichen großen Sprünge gibt, wenn sie von der U17 in die U19 und die U21 kommen, sondern es gibt bei uns einen roten Faden von unten bis nach ganz oben.

ballesterer: Worin besteht der?

Hrubesch: Wir bilden die Spieler aus. Wenn man das gut macht, ist man automatisch erfolgreich. Bei uns geht es im Nachwuchsbereich nicht um Titel, sondern darum, Spaß zu haben und authentisch zu sein. Für die Spieler ist es wichtig, Verantwortung zu übernehmen. Ich will keine Roboter, ich brauche Individualisten. Leute, die sich mit ihren Kollegen auseinandersetzen, ihre Meinung klar äußern, auch dem Trainer gegenüber. Wir wollen Spieler mündig machen, fußballerisch sind sie alle gut.

ballesterer: Ist das die Veränderung, die Sie umgesetzt haben, als Sie 2020 als Nachwuchsdirektor zum HSV zurückgekommen sind?

Hrubesch: Ja. Wir könnten in der zweiten Mannschaft auch mit einem Stamm von erfahrenen Fußballern spielen und zwei, drei Talente dazu holen, damit die sich weiterentwickeln. Aber dann brauchen die Jungen keine Verantwortung übernehmen. Dann spielen sie nur mit. Ich habe gesagt: "Ich will nur noch junge Spieler." Ich habe gewusst, dass das vielleicht ein halbes Jahr dauern wird, aber dann verstehen sie, dass sie Verantwortung übernehmen müssen. Die Frage ist, ob du als Klub und Trainer bereit bist, die Tür zu öffnen und die Spieler machen zu lassen. Ernst Happel ist mit uns Meister und Europacupsieger geworden, aber letztlich haben wir am Platz gewinnen müssen. Diese Verantwortung kannst du den Spielern nicht abnehmen – und darfst es auch nicht.

ballesterer: Als Ernst Happel 1981 den HSV übernommen hat, ist er auf eine erfolgreiche Mannschaft getroffen. 1979 sind Sie Meister geworden, danach zweimal Zweiter. Wie ist er damit umgegangen?

Hrubesch: Er hat erkannt, dass die Mannschaft gut und körperlich topfit war. Ihm war schnell klar, dass wir drauf haben, was er spielen will. In der Vorbereitung haben wir dann trotzdem einen Anschiss gekriegt. Wir waren es gewöhnt, 1:0, 2:0, 3:0 zu führen, das hat uns gereicht. Bei ihm ist es weiter gegangen – sechs, sieben Tore. Das Spiel war immer vorwärts und selbstbestimmt ausgerichtet.

Horst Hrubesch erzielte 96 Tore für den HSV.
Foto: IMAGO/ABS Michael Schwarz

ballesterer: Wie hat sich das ausgedrückt?

Hrubesch: Wir haben immer versucht, den Ball zu bekommen und das Spiel zu machen. Bei seinem Vorgänger Branko Zebec haben wir bei Ballverlust hinter der Mittellinie gewartet, bis wir wieder an den Ball kommen. Bei Ernst hast du immer und immer wieder versucht, in Ballbesitz zu kommen. Heute nennt man das Pressing.

ballesterer: Sie haben später beim FC Tirol als Happels Co-Trainer gearbeitet. Was haben Sie von ihm mitgenommen?

Hrubesch: Das war die Krönung. Ich habe immer Trainer gehabt, bei denen du hart arbeiten und Verantwortung übernehmen musstest, einfach nur mitzuspielen wäre nicht gegangen. Branko hat vorgegeben, was passieren soll, aber darauf gewartet, wie du damit umgehst. Er hat immer ziemlich viel gesprochen, Ernst haben zwei, drei Sätze gereicht. Das habe ich von ihm gelernt. "Was willst du da reden?", hat er gesagt. "Wir haben ja die ganze Woche trainiert." Nach dem Gegner hast du dich bei ihm selten gerichtet.

ballesterer: Aber lassen sich alle Spieler so in die Verantwortung holen?

Hrubesch: Es gibt in jeder Mannschaft eine Hierarchie, nicht alle sind Führungsspieler. Entscheidend ist, wie die Mannschaft miteinander umgeht. Beim HSV haben wir damals Kevin Keegan gehabt, der hat auch hin und wieder für sich alleine gespielt. Trotzdem hat er eine Qualität gehabt, dass die anderen das akzeptieren mussten. Mit Franz Beckenbauer Fußball zu spielen, ist keine Kunst. Der hat dir die Bälle perfekt aufgelegt. Am Ende geht es darum: "Was wollen wir zusammen?" Wenn jeder nur für sich spielt, kommt nichts dabei heraus.

ballesterer: Welche Rolle hat der Trainer dabei?

Hrubesch: Mir ist wichtig, den jungen Spielern immer etwas an die Hand zu geben, das funktioniert. Der entscheidende Faktor ist nicht, die Spieler zu verändern. Die haben ja ihre Fähigkeiten. Die Frage ist: "Wie kriege ich die Fähigkeiten zusammen? Wie gelingt es mir, dass alle harmonieren?" Das ist heute schwieriger als früher, weil Mannschaften nicht mehr so lange zusammenspielen.

Deutscher Meister 198: Horst Hrubesch, Bernd Wehmeyer, Manfred Kaltz, Thomas von Heesen und Lars Bastrup bedanken sich mit der Meisterschale bei ihren Anhängern.
Foto: imago images/Sven Simon

ballesterer: Das war bei Ihnen beim HSV anders.

Hrubesch: Genau, und noch dazu sind wir privat verbunden gewesen. Unsere Frauen haben sich gekannt, die Kinder auch. Ich habe meine Kinder einmal am Sonntag mit zum Training genommen, da hat sich Ernst Happel mit ihnen ins Warmwasserbecken gesetzt. Damals hat es ein Zusammengehörigkeitsgefühl gegeben, das vielleicht größer war, als es heute ist.

ballesterer: Wie kann man das heute stärken?

Hrubesch: Wir versuchen verschiedene Dinge: Wir achten darauf, dass die Familien dabei sind, veranstalten gemeinsame Essen. Im Nachwuchsbereich machen wir zum Beispiel den Rauten-Cup mit all unseren Teams, Jungs und Mädels. Die Mannschaften werden gemischt zusammengestellt, es sind auch Leute aus dem Marketing und anderen Abteilungen dabei.

ballesterer: Kommen wir noch einmal zurück zu Ihrer ersten Tätigkeit in Österreich. Sie haben 1992 den FC Tirol trainiert, als sich mit Swarovski der Mäzen verabschiedet hat.

Hrubesch: Das stimmt ja so nicht. Wenn Ernst Happel nicht den Teamchefposten übernommen hätte, wäre Swarovski vielleicht geblieben. Ich bin dann Cheftrainer geworden, Swarovski hat angeboten weiterzumachen. Aber das wollte der Verein nicht, das darf man nicht vergessen. Die Lizenz ist an Wacker Innsbruck zurückgegeben worden, die Farben sind auf Schwarz-Grün geändert worden. Meiner Meinung nach war das unsinnig. Seither ist der Zug dort rückwärtsgefahren.

ballesterer: Wenn man sich Ihre Trainerstationen anschaut, wirkt es, als hätten Sie dann im Nachwuchsbereich beim DFB Ihre Bestimmung gefunden.

Hrubesch: Da habe ich mit einer ziemlich breiten Palette angefangen, also Trainerausbildung, U17, U19 und noch die zweite Nationalmannschaft. Ich war gut ausgelastet. Mein großer Vorteil war, dass beim DFB mit Erich Rutemöller und Bernd Stöver top Leute im Trainerteam waren, die mir weitergeholfen haben. Ich habe die Chance gehabt, Weltmeisterschaften, Europameisterschaften und Olympia zu spielen und junge Leute auf diesem Weg zu begleiten. Das hat großen Spaß gemacht. Am Ende habe ich noch einige Monate das Nationalteam der Frauen übernommen, das war auch eine tolle Erfahrung.

ballesterer: Sie haben einmal gesagt, dass Sie nicht zwischen Frauenfußball und Männerfußball unterscheiden, es sei eben Fußball.

Hrubesch: Ja, ich habe es nicht unterschieden, ich habe nicht verglichen. Vom Training, von der Art, Fußball spielen zu lassen, ist das nichts anderes. Klar habe ich einige Sachen berücksichtigen müssen, am Anfang habe ich zum Beispiel bei den Teambesprechungen gemerkt, dass die Mädels keine Miene verziehen. "Das geht nicht", habe ich gesagt. "Ihr müsst mir zeigen, ob ihr mich verstanden habt." Am nächsten Tag hat mich eine Spielerin zur Seite genommen und gesagt. "Horst, ich muss dir etwas erklären. Wenn wir nichts sagen, haben wir es verstanden. Sonst fragen wir nach."

ballesterer: Spielen die unterschiedlichen Rahmenbedingungen für Frauen und Männer eine Rolle?

Hrubesch: Ja, die meisten Mädels machen Abitur, manche arbeiten nebenbei oder studieren. "Ihr müsst mir nichts beweisen", habe ich gesagt. "Nur euch selbst." Das Schöne war, dass sie mich akzeptiert haben.

ballesterer: Beim HSV ist das Team der Frauen 2012 aus Kostengründen aus der Bundesliga zurückgezogen worden. Jetzt gibt es wieder ehrgeizigere Ziele, die Frauen spielen um den Zweitligaaufstieg.

Hrubesch: Das war vor meiner Zeit. Sie waren damals in der Bundesliga eines der besten Teams. Als ich vor zwei Jahren als Nachwuchschef angefangen habe, war für mich klar, dass die Frauen zum HSV gehören. So habe ich es auch mit Sportvorstand Jonas Boldt besprochen: "Das will ich mitmachen, da will ich weiterkommen." Dann haben wir das Team besser strukturiert und letztes Jahr bis auf die Relegation kein Spiel verloren. Dort haben wir uns leider selbst geschlagen.

ballesterer: Die U21 der Männer steht in der Regionalliga Nord vorne in der Tabelle, soll aber nicht in die dritte Liga aufsteigen. Warum nicht?

Hrubesch: Wir haben das lange diskutiert. Wenn wir mit unseren 18-, 19-Jährigen in der dritten Liga spielen würden, wäre das ein Tanz auf der Rasierklinge. Da kann es passieren, dass wir von 34 Spielen 30 verlieren. Das ist nicht sinnvoll. Um eine erfahrenere Mannschaft aufzustellen, müsstest du noch mehr Geld in die Hand nehmen. Das Modell wollen wir aber nicht. Wir wollen junge Spieler ausbilden und immer wieder ganz oben einsetzen.

ballesterer: Und ganz oben soll nächste Saison die Bundesliga sein?

Hrubesch: Ich habe immer das Ziel weiterzugehen. Ich habe den Jungs in der U21 gesagt, auch wenn wir nicht aufsteigen, wollen wir Meister werden. Und bei den Profis ist der erste Schritt, nach inzwischen fünf Jahren aufzusteigen. Der zweite wäre, in der Liga zu bleiben. Und dann müsste der dritte Schritt sein, international zu spielen, und der vierte irgendwann in die Champions League zu kommen. Ziele sind dafür da, dass man sie sich setzt. (Nicole Selmer, 9.5.2023)