Bei einer Feier zum Europatag hat sich Karl Nehammer in einer Rede im Parlament selbst als "glühenden Europäer" eingestuft. Ein gemeinsames Europa, "das ist die Zukunft", sagte der Kanzler. Basis dafür seien Respekt, Pluralität, Bereitschaft zum Kompromiss.

Er sprach über eine EU der Vielfalt ihrer Kulturen und Staaten, als Bündnis für Frieden und Freiheit. In Summe: Wir brauchten mehr Europa, nicht weniger.

Nehammers Bekenntnis zielte auf den 9. Mai 1950. Frankreichs Außenminister Robert Schuman gab damals in Paris seine berühmte Schuman-Erklärung ab. Sie gilt als Geburtsstunde der EU, sie beginnt mit dem Satz: "Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Größe der Bedrohung entsprechen."

Und weiter: "Der Beitrag, den ein organisiertes und lebendiges Europa für die Zivilisation leisten kann, ist unerlässlich für die Aufrechterhaltung friedlicher Beziehungen."

In Zeiten des russischen Eroberungskriegs gegen die Ukraine und des Versuchs von Präsident Wladimir Putin, gleichzeitig die Europäische Union zu spalten, zu schwächen, zu brechen, fällt es einem wie Schuppen von den Augen. 73 Jahre nach ihrer Entstehung klingen diese Maximen aktueller denn je.

Kanzler Karl Nehammer beschreibt sich in einer Rede als glühenden Europäer. Wie glaubhaft ist das?
Foto: APA/Georg Hochmuth

Nehammers Ausführungen im Parlament waren also im Prinzip goldrichtig. Gerade das kleine Österreich braucht eine starke Europäische Union.

So weit, so gut. Man nimmt ihm ab, dass er ein guter Europäer im Sinne seines ÖVP-Vorbilds Alois Mock gerne sein will. Die entscheidende Frage aber ist: Hält der Regierungschef, dessen Aufgabe es ist, dem Land eine über Neuwahltermine und kurzfristige Erfolge hinausreichende Linie zu geben, auch ein, was er mit schönen Worten verspricht?

Daran sind starke Zweifel angebracht. Österreichs Europapolitik ist schon länger nicht mehr "lebendig", wie es in der Schuman-Erklärung heißt. Schon gar nicht kann man "schöpferische Anstrengungen" erkennen, wie die Regierung in Wien eine Union des Friedens und der Freiheit gemeinsam mit anderen EU-Partnern voranbringen möchte.

Kampf um nationale Ziele

In Brüssel und Straßburg wird fast nur um nationale Ziele gekämpft. Stichwort: Migration. Österreichische Initiativen für das größere Ganze, das Gemeinschaftliche bleiben aus. Das hat vor allem zwei Gründe, die – so fair muss man sein – nicht nur bei der ÖVP liegen.

Auch bei der SPÖ liegt das Europaengagement seit Jahren im Tiefschlaf. Sie ist seit längerem mit sich selbst beschäftigt. Auch von den Grünen, die den EU-Beitritt 1994 noch ablehnten, sich heute aber als große Proeuropäer sehen, kommen wenige Ideen, sofern es nicht um Klimaschutz geht.

Den Kanzler scheint das alles nicht zu stören. Er tut wenig bis nichts, um mit SPÖ, Grünen und den liberalen Neos einen breiten EU-Konsens zu fördern, wie es ihn früher hin und wieder gab. Es gibt keine gemeinsame Ambition mehr.

Der zweite Grund für das Darniederliegen von Österreichs Europapolitik liegt im Umgang der ÖVP mit der FPÖ. Diese mag im Pulk mit Europas extrem rechten Parteien noch so heftig gegen "die EU" ausreiten, es hält die ÖVP nicht davon ab, sich die Freiheitlichen als Regierungspartner warmzuhalten, statt deren EU-Feindlichkeit scharf zu kontern.

Das fällt auf Nehammer zurück. Man kann nicht "großer Europäer" sein und mit EU-Skeptikern regieren. Das untergräbt die Glaubwürdigkeit. (Thomas Mayer, 9.5.2023)