Foto: Hanno Sauer / Piper Verlag

Moral: Für die einen ist sie eine Erfindung Scheinheiliger. Für die anderen ist sie unentbehrlich, um ein zielgerichtetes Leben zu führen. Der deutsche Ethikprofessor und Philosoph Hanno Sauer untersucht nun in seinem neuen Buch, wie sich trotz unterschiedlicher kultureller Werte grundlegende moralische Handlungsmuster entwickeln konnten.

Den Anfang macht Nietzsche, der glaubte, die Moral recht unverfroren als Farce entlarven zu können: Sie sei nichts anderes als die Unterdrückung unserer bösen Triebe. Gerade deshalb fördere sie als Machtmechanismus das Lustempfinden am Strafen. Nur so könne der "Druck" abgelassen werden. Den Teufel – bei Nietzsche die Scham – könne man demnach lediglich mit dem Beelzebub austreiben, statt genuine Pflichtgefühle verspüren.

So einfach ist es dann aber doch wieder nicht, meint Sauer. Gewiss, das Strafen hat mit der Sozialisierung des Menschen die Evolution der Moral begünstigt. Trotzdem muss man die Frage nach ihrem Ursprung anders formulieren. Denn Wertekanons existieren seit den ersten menschlichen Gemeinschaften, sie sind also zum Teil evolutionsbiologisch bedingt.

Humaneres Strafen

Das dunkle (Hoch-)Mittelalter hat erstaunlicherweise kleine Lichtblicke in petto. Nun orientierte man sich beim Strafen weniger am Verwandtschaftsgrad zwischen Täter und Opfer, sondern unterschied zwischen der Schuld als Absicht und der Schuld als Tat. Obwohl das Vergeltungsprinzip in der Antike als offizielle Strafmaßnahme eingeführt wurde, um den Zusammenhalt sozialer Gruppen mit gemeinsamen Werten zu stärken, zieht es einen juristischen Rattenschwanz nach sich, den Sauer ausführlich beleuchtet.

Die ersten Denker, die eine Humanisierung des Strafens im 17. Jahrhundert befürworteten, stellten sich die Frage, was der Gesellschaft den größtmöglichen Nutzen brächte. Dass eine Verhärtung von Strafmaßnahmen dieser nicht immer zugutekommt, veranschaulicht Sauer anhand US-amerikanischer Beispiele: der Todesstrafe, des Irak- und Afghanistankriegs ("War on Terror") und des "War on Drugs" der 1990er-Jahre.

Aktuelle Moraldiskurse

Mit postkolonialer Kapitalismuskritik geht Sauer hart ins Gericht. Weder der Imperialismus noch der Kolonialismus hätten die ökonomischen Unterschiede zwischen armen und reichen Nationen bedingt. Die größten Imperien sind ja nicht zwingend die reichsten. Nach Sauer geht es eher um die Technologien der Ausbeutung ärmerer Schichten durch die Eliten in kolonisierenden und kolonisierten Ländern.

Warum aber brechen wir immer wieder mit alten Werten? Warum erfährt unser Vokabular gerade jetzt eine radikale Umwertung? Sauer nimmt sich der aktuellen Debatten von Cancel-Culture bis Klimaaktivismus an. Er plädiert für das Aufwiegen moralischer Unterschiede gegen interkulturelle Gemeinsamkeiten. Anhand des Konfuzianismus etwa verdeutlicht er, dass zwischen dem antiken China und dem heutigen Westen nur marginale moralische Unterschiede vorliegen.

Mit einem Rückgriff auf jüngere Publikationen bringt Sauer frischen Wind in ein verstaubtes Themengebiet. Obwohl die Kapitel keiner strikten Chronologie gehorchen und sich Inhalte überlappen, empfiehlt es sich nicht, diese wie bei einem Nachschlagewerk zu durchblättern. So fällt es leichter, der komplexen Argumentation zu folgen. (Christina Janousek , 9.5.2023)