Neandertaler (rechts ein rekonstruiertes Skelett) starben im Laufe der Zeit aus, nachdem der moderne Mensch, Homo sapiens (links), nach Europa gekommen war.
Foto: AP / Frank Franklin II

Im Februar veröffentlichte der französische Archäologe Ludovic Slimak von der Universität Toulouse mit seinem Forschungsteam eine aufsehenerregende Studie. Sie dokumentierte nicht nur die bisher ältesten Hinweise auf Pfeil-und-Bogen-Jagd in Europa, die bereits vor 54.000 Jahren stattfand, wie Funde bei der Mandrin-Höhle im Rhônetal zeigen. Denn die Technik wurde den Fachleuten zufolge von eingewanderten modernen Menschen, Homo sapiens, genutzt, die 10.000 Jahre früher als gedacht in Europa einwanderten, wie Slimak zuvor herausgefunden hatte. Die ebenfalls in dieser Region lebenden Neandertaler hingegen dürften die Bogenschießtechnik nicht aufgegriffen haben. Warum sich die verschiedenen Populationen nicht austauschten, bleibt rätselhaft.

Wichtige neue Fundstücke wurden vor der französischen Mandrin-Grotte im Rhônetal ausgegraben.
Foto: Ludovic Slimak

Auch die Frage, warum Neandertaler größtenteils ausstarben und sich die modernen Menschen bewährten, kann die Forschung derzeit nicht beantworten, auch wenn es Hypothesen dazu gibt. Immerhin finden sich noch heute im Erbgut von Menschen, die aus Europa stammen, ein bis vier Prozent Neandertaler-DNA, was beispielsweise Nasenformen beeinflusste. Doch letztendlich setzte sich der moderne Mensch durch, auch wenn die ersten Einwanderergruppen offenbar nicht gleich langfristig Fuß fassen konnten.

Eine neue Hypothese zur Besiedlung Europas durch den Homo sapiens konnte Slimak nun in der Fachzeitschrift "Plos One" veröffentlichen. Dafür verglich der Archäologe, der für das nationale Forschungszentrum Frankreichs (CNRS) arbeitet, Steinwerkzeuge. Die unterschiedlichen Techniken lassen sich verschiedenen frühen Migrationswellen zuordnen. Diese kamen aus dem östlichen Mittelmeerraum. Die Spezies Homo sapiens hat ihre Wurzeln auf dem afrikanischen Kontinent, die ersten Auswanderungswellen dürften vor etwa 60.000 Jahren stattgefunden haben.

Provokante These

Die ersten steinzeitlichen Gruppen kamen demnach vor etwa 54.000 Jahren nach Europa. Die zweite Phase fand vor rund 45.000 Jahren statt, die dritte vor 42.000 Jahren. Damit zog sich die Besiedlung über einen Zeitraum von 12.000 Jahren hin – und erst die dritte Welle hatte langanhaltenden Erfolg.

Die Grafik zeigt drei Migrationswellen des Homo sapiens nach Europa, die anhand der gefundenen Steinwerkzeuge nachvollzogen wurden.
Bild: Ludovic Slimak

Damit positioniert sich Slimak aber auch gegen bisherige Einschätzungen anderer Fachleute, die die Splitter der Châtelperronien-Kultur den Neandertalern zuschreiben. Der Franzose hält sie für vom modernen Menschen gemacht. Denn sie ähneln Objekten, die aus der gleichen Zeit stammen und im östlichen Mittelmeerraum entdeckt wurden und offenbar von Homo sapiens stammen. Entsprechend schätzt der britische Paläoanthropologe Chris Stringer, der am Natural History Museum London forscht, den Beitrag als "provokant und ambitioniert" ein, wie er dem "Observer" mitteilte.

"Die Châtelperronien-Kultur, eine der ersten modernen Traditionen in Westeuropa, die den Neandertalern zugeschrieben wird, dürfte tatsächlich die zweite Welle der Homo-sapiens-Wanderung nach Europa einläuten und unser Verständnis der kulturellen Organisation der letzten Neandertaler tiefgreifend beeinflussen", sagt Slimak.

Ausbreitung über die Erde

Der Forscher geht davon aus, dass die ersten Gruppen relativ klein waren und erst mit der dritten Migrationswelle so viele moderne Menschen nach Europa kamen, dass sie sich fest ansiedelten und Netzwerke bildeten. Nicht nur untereinander hatten sie Kontakt, sondern auch zu Neandertalern, wovon nicht zuletzt die Neandertaler-DNA in heute lebenden Menschen zeugt. Von einem aggressiven Überlebenskampf zwischen den beiden Menschentypen geht er nicht aus.

Die Studie liefert neuen Stoff für die Diskussionen, die sich um die Wanderungsbewegungen des modernen Menschen drehen. Der Weg vom afrikanischen Kontinent nach Eurasien ist recht naheliegend. Erst viel später dürften Menschen Amerika besiedelt haben: Die Forschung geht von einem Zeitraum vor etwa 15.000 bis 25.000 Jahren aus. Die Menschen könnten damals auf vereisten Wegen – nämlich die zeitweise vorhandene Landbrücke "über" die Beringstraße – von Sibirien in den Nordwesten Amerikas gefunden oder Boote genutzt haben.

Menschen in Amerika

Ein chinesisches Forschungsteam veröffentlichte nun im Fachjournal "Cell Reports" seine Analyse, die unterstreicht, dass es mehrere Wanderungsbewegungen aus verschiedenen Teilen Eurasiens nach Amerika gab. "Die asiatische Abstammung der indigenen Bevölkerung Amerikas ist komplizierter als bisher angenommen", sagt Erstautor Yu-Chun Li vom zoologischen Kunming-Institut der Chinesischen Akademie der Wissenschaften. "Zusätzlich zu den bereits beschriebenen Vorfahren in Sibirien, Australo-Melanesien und Südostasien zeigen wir, dass auch das nördliche Küstenland China zum Genpool der amerikanischen Ureinwohner beigetragen hat."

Die Studie konnte zwei urgeschichtliche Migrationswellen aus dem Nordosten Chinas ausmachen. Die erste fanden während der letzten Eiszeit – vor 19.000 bis 26.000 Jahren – statt und führte nach Amerika. Während der Eiszeit dürften die Lebensbedingungen für Menschen im Norden Chinas aufgrund der ausgedehnten Eisbedeckung schwierig gewesen sein. Entlang der Pazifikküste könnten sich die Menschen zum amerikanischen Kontinent begeben haben, vermutet das Forschungsteam.

DNA der Mütter

Zudem habe es aber auch Wanderungsbewegungen auf die japanischen Inseln gegeben, und zwar während der folgenden Schmelzperiode, also bis vor 11.000 Jahren. Damals wurden die Klimabedingungen in dieser Region "menschenfreundlicher", die Fachleute gehen von einem Populationsanstieg aus. Dies könnte auch die Ausbreitung in andere Gegenden befeuert haben.

Dabei ließ sich wieder genetische Verwandtschaft mit Native Americans erkennen. Li zeigt sich überrascht über die Feststellung, "dass diese Vorfahren auch zum japanischen Genpool beitrugen, vor allem zu dem der indigenen Ainu".

Die Studie skizziert Migrationsbewegungen vom Nordosten Chinas nach Nordamerika sowie nach Japan.
Bild: Li et al.

Für die Studie untersuchte das Team mitochondriale DNA. Dabei handelt es sich um Erbmaterial, das nicht aus dem Zellkern stammt, sondern auf die "Kraftwerke der Zelle", die Mitochondrien, zurückgeht. Diese werden üblicherweise in mütterlicher Linie an den Nachwuchs weitergegeben – in einer Eizelle ist weitaus mehr Platz für zusätzliche Zellorganellen als in einem Spermium.

Gemeinsame Vorfahren

Die mitochondriale DNA kommt aus mehr als 15.000 alten wie auch über 100.000 modernen Proben. Sie stammen großteils aus Eurasien sowie von Populationen, die einst und heute in Kalifornien, Mexiko, Ecuador, Brasilien, Bolivien, Peru und Chile lebten. Anhand der Wohn- und Fundorte, der Datierung sowie der DNA-Mutationen setzten sie das Genmaterial zueinander in Beziehung. Ergänzende Analysen der DNA von Y-Chromosomen, die typischerweise väterlich vererbt werden, zeigten, dass auch männliche Vorfahren amerikanischer indigener Menschen im Norden Chinas lebten.

Damit zeigte das Forschungsteam, dass nicht nur Artefakte wie Pfeilspitzen aus China, Japan und Amerika auf eine Kulturweitergabe hindeuten: Die Genetik unterstreiche, dass es auch gemeinsame Vorfahren gab, sagt Studienautor Qing-Peng Kong. (Julia Sica, 10.5.2023)