In der Vergangenheit haben vor allem Menschenrechtsorganisationen immer wieder von der Politik gefordert, bei Ermittlungen wegen Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei nachzubessern.

Foto: APA/EVA MANHART

Ein Polizist packt den Kopf eines Mannes, der bereits fixiert auf dem Boden liegt, und schlägt ihn mehrfach auf den Asphalt. Der junge Mann, den mehrere Beamte festhalten, blutet aus einer Platzwunde, das Blut tropft auf den Gehsteig: Diese Gewaltszene zeigt ein Video, das am Montag vom Fernsehsender Puls 24 publiziert wurde. Die Aufnahme entstand am Sonntag bei Dreharbeiten für einen Bericht über ein Tötungsdelikt in Wien-Simmering.

Der 19-Jährige, der mit dem Tötungsdelikt nichts zu tun hatte, wollte gegenüber dem Tatort Geld abheben. Doch der Bereich war laut Polizei gesperrt – wobei dies Puls 24 zufolge nicht ersichtlich gewesen sei. Einer Frau war der Zugang zum Bankomaten zuvor erlaubt worden.

Der Passant und ein Polizist diskutieren – die Stimmung wird immer aufgeheizter, es kommt zu Körperkontakt. Schließlich wird der Mann zu Boden gerungen. Mehrere Polizistinnen und Polizisten eilen ihrem Kollegen zu Hilfe, der Passant ruft, dass er nichts falsch gemacht habe und nur Geld abheben wolle. "Wieso machst du so was?", fragt er, als der Polizist seinen Kopf gegen den Boden rammt und ihn verletzt.

Auf freiem Fuß angezeigt

Die Landespolizeidirektion Wien selbst argumentiert, dass der Mann den abgesperrten Bereich betreten hätte – dort hatte ein 38-Jähriger einen 34-Jährigen erschossen. Nachdem der Mann darüber informiert wurde, habe er den "Anstand" verletzt. Er wurde auf freiem Fuß wegen des Verdachts auf Widerstand gegen die Staatsgewalt angezeigt. Nach der Verletzung sei die Rettung verständigt worden.

Der zuständige Beamte ist weiterhin ganz regulär im Dienst, hieß es. Das Referat für besondere Ermittlungen kündigte am Montag Untersuchungen an. Grüne und Neos verurteilten das Vorgehen der Polizei.

Kritik von Neos und Grünen

"Sobald die Polizei einen Menschen überwältigt hat, darf sie gegen ihn – egal, was ihm vorgeworfen wird – keine weitere Gewalt mehr ausüben", kritisierte der Grünen-Sicherheitssprecher Georg Bürstmayr. "Diese Videoaufnahmen sind verstörend, für diese offenkundig überbordende Gewalt ist keinerlei Grund ersichtlich. Zwangsgewalt darf unsere Polizei nur ausüben, wenn und solange das notwendig ist, um einen Widerstand zu überwinden, und selbst dann muss sie stets das gelindeste Mittel wählen."

Fragen werfe auch auf, "dass gegen den Betroffenen gleich mehrere strafrechtliche Vorwürfe erhoben werden, unter anderem ausgerechnet der, er hätte einen Polizisten am Körper verletzt. Diese Fragen betreffen nicht nur jenen Beamten, der den Kopf des Betroffenen gegen den Boden geschlagen hat. Es ist auch schwer nachvollziehbar, wie solche Anzeigen zustande kommen und warum andere beteiligte Polizisten ihren Kollegen nicht an dieser offenkundigen Misshandlung gehindert haben", so Bürstmayr weiter. Er kündigte eine parlamentarische Anfrage an.

Ebenfalls eine parlamentarische Anfrage kündigten die Neos an. Sicherheitssprecherin Stephanie Krisper forderte aus Anlass des Falles erneut, dass die geplante Beschwerdestelle gegen Polizeigewalt nicht im Innenministerium angesiedelt werde. "Dem haben die Grünen aber trotz lauter Kritik von sämtlichen Fachleuten zugestimmt. Sie sollten ihre Zustimmung zu dieser absurden Idee spätestens jetzt zurückziehen", sagte Krisper auf APA-Anfrage.

Polizeigewalt?

Dokumentiert das Video Polizeigewalt – die strafbar ist? "Grundsätzlich ist es schwierig, anhand von Bildaufnahmen die Gesamtsituation zu bewerten", sagt die Juristin und Kriminologin Angelika Adensamer vom Forschungsinstitut Vicesse dem STANDARD. Allerdings seien die Befugnisse der Polizei klar geregelt: Jede Form von Gewaltausübung müsse der Gefahrenabwehr dienen. Sie müsse so klein wie möglich sein und im Verhältnis zu dem Verhalten der Betroffenen stehen. "Sobald keine Gefahr ausgeht, darf man diese Gewalt nicht mehr fortsetzen", sagt Adensamer. Das betreffe oft Leute, die bereits fixiert sind: "Den Kopf zu schlagen ist keine Sicherungsmaßnahme. Ich wüsste nicht, wieso es keine gelinderen Mittel geben soll, um die Gefahr einzudämmen."

Meldungen über Polizeigewalt gibt es wiederholt. Eine Auswahl:

  • Bei einer Demo gegen die Stadtstraße in der Wiener Lobau im Februar 2022 soll ein Polizist einem Demonstranten eine Rippe gebrochen haben. Der Verletzte bekam im Jänner 2023 vor Gericht Recht.
  • Anlässlich einer Gegenkundgebung zu einer Corona-Demo im Oktober 2021 soll ein Polizist einen Teilnehmer vom Fahrrad gestoßen und auf ihn eingetreten haben.
  • Eine Teilnehmerin der Mayday-Kundgebung im Wiener Votivpark am 1. Mai 2021 berichtete, sie sei von einem Polizisten in eine Hecke gestoßen und mit dem Schlagstock attackiert worden. Die Ermittlungen wurden eingestellt.
  • Bei einer Klima-Demonstration im Juli 2019, bei der Kundgebungsteilnehmende in der Wiener Innenstadt eine Straße blockierten, wurde ein von Polizisten auf dem Boden in Bauchlage fixierter Demonstrant fast von einem Polizeiauto überfahren. Davon gab es ein Video. Ein zweiter Kundgebungsteilnehmer wurde geschlagen und getreten, er erlitt eine Rissquetschwunde. Im Dezember 2019 beurteilte das Wiener Landesverwaltungsgericht die Amtshandlung als rechtswidrig. Die Verwaltungsstrafen gegen die Aktivisten wurden 2020 aufgehoben.
  • Der Journalist Samuel Winter kritisiert im STANDARD-Gespräch den vermehrten Einsatz von Pfefferspray bei Demonstrationen, zuletzt im März bei einer Demo gegen Rechtsextreme, die sich vor einer Dragqueen-Lesung versammelt hatten. Dabei wurde auch er getroffen. Winter will eine Maßnahmenbeschwerde einbringen. Grundsätzlich ist der Einsatz erlaubt, wenn kein gelinderes Mittel ausreicht.

Kritik an Beschwerdestelle

In der Vergangenheit haben vor allem Menschenrechtsorganisationen immer wieder von der Politik gefordert, bei Ermittlungen wegen Misshandlungsvorwürfen gegen die Polizei nachzubessern. Das soll nun mit einer Beschwerdestelle für Polizeigewalt geschehen. Während der Begutachtungsfrist kritisierten zahlreiche Institutionen vor allem, dass die Stelle dem Innenministerium obliegt – wo auch die Polizei ressortiert. Demnach würde die Polizei gegen sich selbst ermitteln. Hinzu kommt, dass es in Österreich keine Möglichkeit gibt, etwa durch Nummernschilder oder Namen Beamte zu identifizieren. Aus Adensamers Sicht sei zudem der Aufgabenbereich der Beschwerdestelle zu klein – andere Probleme, die neben roher Gewalt auch existieren, blieben auf der Strecke. Beispielsweise gebe es mithilfe der neuen Stelle keine Ermittlungen, wenn Beamtinnen oder Beamte gegen das Verbotsgesetz verstoßen oder Verhetzung betreiben. "Mit dieser Stelle gebe es noch vieles, was nicht abgedeckt ist", kritisiert sie.

Bei Misshandlungsvorwürfen durch die Polizei kommt es fast nie zu einer Anklage, bemerkt die Anti-Rassismus-Stelle Zara. Laut einer Studie des Austrian Center for Law Enforcement Sciences (ALES) zwischen 2012 und 2015 kam es nach 1.518 Misshandlungsvorwürfen in nur sieben Fällen zu Gerichtsverfahren. Verurteilungen gab es gar keine. (Muzayen Al-Youssef, Irene Brickner, 9.5.2023)