Die Erforschung Eurasiens ist eine Mammutaufgabe: Die Region macht circa 36 Prozent der Landmasse des Planeten aus, rund 70 Prozent der Erdbevölkerung leben hier. Zwei Drittel der Weltsprachen werden dort gesprochen. Ein sehr weites Feld, das dennoch nun in Österreich 31 Historikerinnen und Historiker beackern wollen: Unter dem Dach eines unlängst bewilligten Exzellenzclusters soll Eurasien aus zahlreichen verschiedenen Blickwinkeln unter die Lupe genommen werden.

"Unser Ziel ist es, diese Megaregion in ihrer gesamten Komplexität zu erfassen", sagt Projektleiterin Claudia Rapp, Direktorin des Instituts für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW). "Unsere Themen reichen vom Perserreich in der Antike bis zum russischen Zarenreich, von den syrischsprachigen Christen in Südindien bis hin zu islamischen Sufi-Mystikern im Osmanischen Reich und buddhistischen Mönchen in Tibet."

Der römische Hadrianstempel wurde in der antiken Stadt Ephesos im Westen der heutigen Türkei teils wiederaufgebaut.
Foto: Imago / Robert Harding

Bestehende Stärken fördern

Dieses Vorhaben wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit insgesamt 15,5 Millionen Euro unterstützt – das ist eine Fördersumme, die man insbesondere in den Geisteswissenschaften selten bekommt. Die Exzellenzcluster sind das Flagship der Exzellenzinitiative "excellent=austria", die der FWF kürzlich mit dem Wissenschaftsministerium auf Schiene gebracht hat. Sich im kompetitiven Bewilligungsverfahren durchzusetzen ist laut Rapp vor allem dadurch gelungen, dass man glaubhaft die bereits bestehenden Strukturen und Kompetenzen in Österreich ins Feld führen konnte.

So sind neben ihrer eigenen Abteilung die Universität Wien, die Central European University und die Universität Innsbruck beteiligt. Aber auch zahlreiche interessante Bestände liegen bereits hierzulande vor: "Wichtig ist uns die Anknüpfung an Österreich als Forschungsstandort und als Standort für kulturelles Erbe." Rapp nennt einige Beispiele: So gebe es hier Papyrussammlungen in arabischer Sprache aus dem spätantiken Ägypten. Das Weltmuseum in Wien beherberge Verschiedenes aus dem indoasiatischen Raum. Und im Staatsarchiv sowie im Heeresgeschichtlichen Museum finden sich Spuren für die bewegten Auseinandersetzungen Österreichs mit dem Osmanen-Imperium.

Forschung vertiefen

Dabei betont Rapp, dass solche Gegenstände nicht bloß als reine Artefakte untersucht werden sollen, sondern dass man sie auch als Bestandteile bereits betriebener Forschung in den Blick nehmen möchte: Jene Dinge gelte es auch zu erforschen im Hinblick darauf, wie sie hierhergekommen sind.

Aber die Auseinandersetzung mit der Forschungstradition sei nur ein Teil der Vorhaben: "Wir wollen ein Konsortium für das Studium von Eurasien sein, das die ganzen Fähigkeiten und Fertigkeiten vermittelt, die es braucht, um diese Forschung zu vertiefen." Und dazu gehört neben Sprach- und Digitalkompetenzen auch das kritische Hinterfragen der Fach- und Forschungsgeschichte. "Vieles davon wollen wir ganz bewusst auch im Dialog und auf Augenhöhe mit Partnern in den betreffenden Ländern machen, ganz besonders auch, was den Dialog mit jüngeren Forschern betrifft, um einen Beitrag zu leisten, dass diese Forschung weiterhin Kontinuität und Bestand hat", sagt Rapp.

Folgen des Ukrainekriegs

Die notwendige internationale Vernetzung ist aber derzeit eine besondere Herausforderung: Auch der wissenschaftliche Austausch – vor allem in der Eurasien-Forschung — hat zuletzt unter dem Ukrainekrieg massiv gelitten: Zahlreiche Forschende können nicht reisen, russische Archive und Bibliotheken sind nicht mehr zugänglich. Dennoch versuche man, alle weiterhin bestehenden Möglichkeiten auszuschöpfen, um mit pragmatischen Lösungen den internationalen Dialog aufrechtzuerhalten.

Die kollektive Fusion von einzelnen Expertisen sei für dieses Projekt nämlich zentral – das betont der ebenfalls im Exzellenzcluster tätige Osteuropa-Historiker Oliver Jens Schmitt, Professor an der Universität Wien: "Wir haben es mit einer Fülle von Kultursprachen zu tun, die bisher nur getrennt voneinander erforscht wurden. Wir wollen jetzt all diese Kompetenzen, die schon sehr lange da sind, bündeln. Das heißt, dass die Forschergeneration von morgen nicht nur in ihrer Disziplin eine seltene Sprache kann, sondern sehr früh zusammengebracht wird mit anderen."

Verzerrtes Geschichtsbild

Schmitt verweist in dem Zusammenhang etwa darauf, dass es ausgerechnet in der Türkei immer weniger Spezialisten für die osmanischen Eroberungen gibt, weil die Sprachanforderungen auf diesem Gebiet sehr hoch sind. Und dabei ist dort eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Feldzügen vermutlich angebrachter denn je, weil unter Präsident Recep Tayyip Erdoğan auch diese Epoche massiv propagandistisch ausgeschlachtet wird und ein verzerrtes Geschichtsbild im kulturellen Gedächtnis immer mehr Raum etwa mithilfe massentauglicher Kinofilme einnimmt. So wird auch jährlich der Jahrestag der Eroberung Konstantinopels durch Sultan Mehmed II. am 29. Mai feierlich begangen.

Das ist nur ein Beispiel für die Reibungspunkte zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die die beteiligten Historikerinnen und Historiker untersuchen wollen. Aber um derartige Diskurse historisch-kritisch zu analysieren, brauche es eben die Fülle von sprachlichen und wissenschaftlichen Kompetenzen innerhalb der Eurasien-Forschung, die das Projekt vereinen möchte.

Wien im Fokus

Laut Schmitt mache sich dabei in Österreich auch bezahlt, dass man über Jahrzehnte kontinuierlich in traditionell besonders starke Bereiche der Geisteswissenschaft weiter investiert habe: In Deutschland zum Beispiel wiederum habe die dortige Wissenschaftspolitik die Osteuropa-Forschung nach 1989 zunehmend als irrelevant eingestuft und bis zur Krim-Annexion 2014 sukzessive abgebaut. Daher hält Schmitt insbesondere Wien als wissenschaftliches Zentrum in diesem Bereich für einen idealen Ort in diesen Zusammenhang: "Es gibt auf der Welt nur ganz wenige Orte, wo sie so breite Strukturen haben, wo die Stränge so ausliegen, um sie zu diesem Teppich verweben zu können." Und Stoff dafür gibt es hier offenbar auch genug. (Johannes Lau, 16.5.2023)