Allein vergangenes Wochenende sind 1.000 Migranten auf Lampedusa eingetroffen. Manche kamen aus Libyen, die meisten aber aus Tunesien. (Symbolbild)

Foto: TAREK AMARA

"Die Migranten kommen in unser Land, um uns zu ersetzen." Es ist ein Satz, der die Verschwörungstheorie des Bevölkerungsaustauschs bemüht – und von rechtsextremen Gruppen in Europa verbreitet wird. Aber nicht nur: Im Februar 2023 wandte sich Tunesiens autoritärer Präsident Kaïs Saïed an den Nationalen Sicherheitsrat, um wegen der starken Zunahme von Migranten aus dem Subsahara-Raum vor einer "Afrikanisierung" Tunesiens zu warnen. Eine große Welle der Solidarität innerhalb der Bevölkerung mit den Migranten war die Folge.

Aber auch Gewalt, Verhaftungen und massive Übergriffe auf sie wurden seither dokumentiert. Ein Grund, um in den Augen zahlreicher Flüchtlings-NGOs die Zusammenarbeit mit Tunesien zu beenden. Die EU will diese intensivieren.

Tunesien als wichtigstes Transitland

Wie lässt sich die Lage in Tunesien einordnen? Und was passiert derzeit in jenem Land, aus dem mittlerweile die meisten Migranten in Richtung Europa aufbrechen? Einen Überblick kann der tunesische Jurist und Migrationsexperte Mohamed Aydi geben. Er ist für ein von der NGO Südwind veranstaltetes Gipfeltreffen von Grenzgemeinden in Straß in der Steiermark nach Österreich gereist. Bis Präsident Saïed die Gemeinderäte ausschaltete – und das Land zusehends in eine Autokratie umwandelte –, war Aydi selbst stellvertretender Bürgermeister und Migrationskoordinator in Sfax, der zweitgrößten Stadt Tunesiens – einer Stadt, die die Drehscheibe in Tunesien in Sachen Migration ist. Und das schon immer.

Migrationsexperte Mohamed Aydi vermisst eine Strategie, eine Vision Tunesiens beim Thema Migration.
Foto: Elisa Tomaselli

"Sfax ist eine weltoffene Stadt und blickt auf eine lange Geschichte der Migration zurück", sagt Aydi. Familien aus Malta, Italien, auch aus dem asiatischen Raum seien dort seit Generationen ansässig. Seit 2006 auch zunehmend Menschen aus Ländern wie Ghana, Nigeria und Kamerun. Damals wurden die Visabeschränkungen für viele Staaten aus dem Subsahara-Raum aufgehoben. Was bedeutet: Seither können sie ganz regulär als Touristen mit einem Dreimonatsvisum nach Tunesien einreisen. Und das nützen viele.

Migranten bauen selber Boote

Doch nach dieser Zeit rutschen sie dann in die "Illegalität" ab und schlagen sich als informelle und "sehr gefragte" Arbeitskräfte in der Schattenwirtschaft durch, berichtet Aydi. So lange, bis sie die lebensgefährliche Überfahrt nach Europa wagen. Die Hetzkampagne des Präsidenten sorgt nun dafür, dass viele das Land so schnell wie möglich verlassen wollen – auch jene, die schon seit langem in Tunesien leben. Meist greifen sie auf Schlepper zurück. "Neu ist auch, dass viele angefangen haben, ihre Boote selber zu bauen, was unglaublich gefährlich ist", so der Experte.

Die täglichen Meldungen über Tote vor der Küste Tunesiens zeugen davon. "Neulich haben wir 200 Leichen begraben. Unsere Friedhöfe sind völlig überfüllt." Ebenso auf Lampedusa, dem nur 180 Kilometer entfernten Ziel der Migranten.

Pullbacks und Verhaftungen

Um Menschen von der Überreise nach Europa abzuhalten, fließen seit Jahren etliche Millionen in Tunesiens Grenzschutz. Diesen möchte etwa der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei, Manfred Weber (CSU), nun weiter ausgebaut sehen. Er brachte im April sogar ein neuen Flüchtlingspakt mit Tunesien, ähnlich dem Türkei-Abkommen, ins Spiel. "Mehr Unterstützung der Küstenwache wäre gut, wenn sie Seenotrettung machen würden, aber das machen sie nicht", sagt Aydi dazu.

Stattdessen käme es immer wieder zu Pullbacks und Verhaftungen. Schaffen sie es lebend an Land, kämen sie für mehrere Tage in Haft – ehe sie wieder vor dem Nichts stünden. Denn für die Versorgung dieser Menschen hätten die Gemeinden weder Kompetenzen noch Geld. "Nur durch das Engagement von Vereinen und Akteuren aus der Zivilgesellschaft ist es bisher gelungen, das Leid der Betroffenen zu lindern", sagt Aydi. Sfax und sieben weitere Kommunen würden hier eng zusammenarbeiten.

Auch Tunesier wollen weg

Während in Tunesien die Migranten aus dem Subsahara-Raum im Fokus stehen, waren es 2022 in Österreich die Tunesier selbst. Durch die Visafreiheit in Serbien konnten sie bis dahin legal ins Land einreisen und sich danach auf den Weg nach Westeuropa machen. Viele stellten Asylanträge in Österreich. Im Dezember war dann Schluss. Serbien hob die freie Einreise auf. Doch auch das scheint einige junge Tunesier nicht davon abzuhalten, ihr Land verlassen zu wollen. Viele versuchen nun, über Marokko nach Europa zu gelangen, sagt der Migrationsexperte. "Junge Leute gehen, weil sie sich nicht wohl fühlen. Und das ist die Schuld der Opposition", seien dazu die Worte des Präsidenten gewesen.

Doch wäre es denkbar, dass Tunesien auf das gleiche Mittel setzt und die Visafreiheit für bestimmte Länder aufhebt? Dieses Szenario hält der Experte für unwahrscheinlich. "Wir haben enge wirtschaftliche Beziehungen zu diesen Staaten und studentische Austauschprogramme." Tunesien würde sich mit einem solchen Schritt ins eigene Fleisch schneiden. Doch all das lege offen, dass das Land weder eine Vision noch eine Strategie beim Thema Migration hätte, sagt Aydi.

Migration als globale Frage

Diese Vision – eine gemeinsame – vermisst der Migrationsexperte genauso in Europa. Die EU konnte mit der Fluchtbewegung aus Syrien umgehen, dann auch mit jener aus der Ukraine. "Ich frage mich, warum das jetzt anders ist", sagt Aydi. Migration, wie sie derzeit verlaufe, sei jedenfalls ein globales, humanitäres Problem, für das es dringend Lösungen brauche. Ein Ansatz seien hier Konzepte wie zirkuläre Migration, also dass Migranten für eine begrenzte Zeit von Zielländern mit Arbeitskräftemangel aufgenommen werden und nach Ablauf der Frist in ihre Heimatländer zurückkehren. Allerdings gebe es momentan nur "Minilösungen". Tatsache sei, dass man Leute nicht davon abhalten könne, sich zu bewegen. "Jeder der wegwill, schafft es auch", sagt Aydi. (Elisa Tomaselli, 12.5.2023)