Mehr als 40 Prozent der ukrainischen Landfläche gelten mittlerweile als vermint oder von explosiven Kampfmittelrückständen kontaminiert. Gemeinhin sprechen Entminungsexperten davon, dass allein ein Tag eines großangelegten Krieges ein ganzes Jahr Minenräumungsarbeit bedeute. Natürlich sorgen 400 Tage Krieg nicht für 400 Jahre Entminung, aber in ehemaligen Frontgebieten gehen Experten von jahrzehntelanger gefährlicher Arbeit aus. In den Gebieten, aus denen die russischen Besatzer zuletzt zurückgedrängt wurden, haben die Menschen Waldspaziergänge und Ähnliches auch auf Jahrzehnte hinweg abgeschrieben, wie beim Besuch eines Minen-Awareness-Kurses seitens des STANDARD im April deutlich wurde. Jeder Schritt abseits gesicherter oder freigegebener Pfade kann dort der letzte sein.

Die Ukraine entmint, wo sie kann, die limitierten Ressourcen werden derzeit aber anderswo benötigt. Es sind vor allem Bäuerinnen, Kinder oder Pensionisten, die von einer humanitären Entminung am meisten und schnellsten profitieren würden. Sie ist in Gebieten, in welche die russische Armee aller Voraussicht nach in diesem Krieg nicht mehr vorstoßen wird, klar von der militärischen Entminung an der Front zu unterscheiden. Letztere ist meist deutlich schneller, brachialer und ungenauer, dient sie doch vor allem der schnellen Fortbewegung der eigenen Truppen – ohne sich zu lange im Gefechtsfeld aufzuhalten.

Tanner will nichts riskieren

Eine Unterstützung der Ukraine an dieser Front ist für einen neutralen Staat natürlich nur schwer bis gar nicht zu argumentieren. Im Falle der Ukraine müsste er dort aber ohnehin nicht eingreifen. Das erledigen die militärischen Partner der Ukraine wie die USA, Deutschland und die Slowakei oder aber auch die Ukraine selbst – indem sie etwa rund ein Dutzend Minenräumpanzer des sowjetischen Typs UR-77 von den Russen erbeutete. Dieser räumt mit Sprengnetzen Flächen von 90 mal sechs Metern binnen Sekunden frei.

Warum sich Österreich einer Beteiligung am humanitären Entminen aktuell entschlägt, scheint nicht klar. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner von der ÖVP meinte vor kurzem: "Ich kann mir durchaus eine Unterstützung der Ukraine bei der Entminung durch unser Bundesheer vorstellen, allerdings erst nach Ende des Krieges, alles andere würde dem Verfassungsrecht widersprechen".

Global ist jedes dritte Minenopfer ein Kind.
Foto: REUTERS/Viacheslav Ratynskyi

Auf Nachfrage des STANDARD heißt es aus dem Verteidigungsministerium, dass es auch bei einer rein humanitären Auslegung der Mission, etwa durch eine Säuberung von Wegen und Routen, keine Garantie gebe, "dass diese nicht durch Kriegsteilnehmer genutzt werden, um einen strategischen Angriff zu starten, weil die Wege wieder sicherer befahrbar sind. Damit wären wir indirekt in Kriegshandlungen involviert, und als militärisch neutraler Staat ist dies undenkbar und widerspricht auch dem Bundesverfassungsgesetz." Laut Tanner werde man "jedenfalls keine Involvierung österreichischer Soldaten, wenn auch nur indirekt, in Kriegshandlungen riskieren". Nach einem Waffenstillstand wolle man jedoch als Erster helfen.

Grüne sehen "soziale Notwendigkeit"

Die Verteidigungsministerin betont zudem, dass nicht übersehen werden dürfe, "dass es die Frontgebiete sind, die vermint sind, und nicht die Randgebiete, wo kein Kriegsschauplatz stattfindet. Denn Gebiete ohne Kriegshandlung werden auch nicht vermint sein." Das ignoriert jedoch die Kampfmittelrückstände durch nicht explodierte Raketengeschosse oder auch die Verschiebung der Front, etwa durch das Zurückdrängen der russischen Armee.

Für David Stögmüller, Wehrsprecher des grünen Koalitionspartners, spricht hingegen nichts gegen eine österreichische Unterstützung der Ukraine bei der Entminung abseits der Frontlinien – im Falle eines etwaigen EU-Mandats auch mit Bundesheersoldaten. Es sei geradezu eine "soziale Notwendigkeit gegenüber der Zivilbevölkerung und ganz besonders gegenüber Kindern". Dafür stehe man als Grüne. Österreich könne ausbilden, Geräte bereitstellen, mit Experten vor Ort helfen, nichts davon würde die Neutralität Österreichs berühren. Auch Vizekanzler Werner Kogler (Grüne) sieht darin "keine Neutralitätsfrage, weil es um eine humanitäre Aufgabe geht", sagte er der "Presse".

Experten sehen keinerlei Bedenken

Auch Experten aus dem Völkerrecht und der Politikwissenschaft widersprechen der Linie Tanners klar: Völkerrechtsexperte Ralph Janik von der Uni Wien sagt dem STANDARD etwa, dass Österreich "aufgrund der EU-Beschlüsse mehr dürfte, als die Regierung anscheinend tun will". Da es sich beim humanitären Entminen "um keine direkt-militärische Maßnahme gegen eine fremde Armee handelt, sollte es erlaubt sein. Das ebenfalls neutrale Irland unterstützt die Ukraine bei der Entminung, ohne hier rechtliche Probleme zu sehen. Warum sollte das nicht für Österreich gelten?", fragt Janik.

Für Franz Eder vom Foreign Policy Lab der Uni Innsbruck ist ebenfalls klar, dass Österreich mehr tun könne, als man offenbar will. "Österreich scheut aber nicht nur vor einer Neutralitätsdebatte zurück, man will auch keine echte Solidaritätsdebatte führen", sagt Eder. Zu fragen, was es heißt, sich im Rahmen der EU-Verträge – zu denen sich das neutrale Österreich schließlich verpflichtete und bekennt – wirklich solidarisch zu verhalten, sei die entscheidende Frage. Was bringen Mehrinvestitionen in Österreichs Militär, wenn wir vorab nicht diskutieren, wofür wir bereit sind, sie einzusetzen, fragt der Politikwissenschafter.

2.400 Quadratmeter kann ein Armtrac 400 pro Stunde räumen.
Foto: REUTERS/Clodagh Kilcoyne

Rein rechtlich sieht Eder keinerlei Bedenken für eine Unterstützung bei der humanitären Entminung, "sofern es sich eben um keine militärische Entminung handelt, die den direkten Kriegszielen der Ukraine nützt". Natürlich könnten Österreichs Soldaten nicht bei der Räumung von Minenfeldern behilflich sein, um etwa eine Gegenoffensive im Süden zu unterstützen, aber das fordere auch niemand – weder in Österreich noch in der Ukraine.

Wer behaupte, dass man durch die humanitäre Entminung in der Tiefe des Landes ukrainische Truppen für den Kampf an der Front freispiele – wie es etwa auch Tanner macht – , lege die Neutralität derart streng aus, dass man gleich sagen könne "Augen zu, und weckt mich, wenn alles vorbei ist", so Eder. Die Ukraine sei und bleibe aus völkerrechtlicher Sicht Opfer eines Krieges, den Österreich als illegal verurteilt hat. Ob man nun Generatoren liefere, damit Menschen nicht frieren, oder Know-how oder Gerätschaften bereitstellt, damit Menschen durch Minen und Kriegsrelikte nicht ihre Beine verlieren – darin sieht Politikwissenschafter Eder keinen Unterschied. (Fabian Sommavilla, 11.5.2023)