Auch immer mehr Erwerbstätige können sich die hohen Lebensmittelpreise nicht mehr leisten. Die Zahl der Working Poor ist seit 2020 um 15 Prozent gestiegen.

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Im Kampf gegen die Teuerung setzt die Bundesregierung nun darauf, die Energiepreise zu senken. Bundeskanzler Karl Nehammer verteidigt das Paket im Ö1-"Morgenjournal" am Donnerstag, gesteht aber ein, dass die bisherigen Maßnahmen nicht bei allen greifen. Im "grundsätzlich sehr engmaschigen Sozialnetz", wie Nehammer es nennt, seien "ab und an noch Maschen zu groß, sodass Menschen durchfallen, vor allem Kinder". Das gelte es mit gezielten Maßnahmen im Sozialsystem zu beenden.

DER STANDARD hat sich vergangene Woche am Viktor-Adler-Markt in Wien umgehört, wie die Menschen mit den gestiegenen Kosten umgehen.
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Ob diese in Form einer Inflationsanpassung des Arbeitslosengeldes, einer Senkung der Mehrwertsteuer oder eine Mietpreisbremse kommen, wollte Nehammer nicht beantworten. Die Sozialleistungen und Familienbeihilfe seien valorisiert worden. Die Reform des Arbeitslosengeldes, die in den ersten Monaten eine Erhöhung vorsah und dann eine degressive Gestaltung, um die Motivation, Arbeit anzunehmen, zu steigern, sei in der Koalition mit den Grünen gescheitert. "Man muss auch dazu sagen, Arbeit ist der beste Schutz vor Armut", betonte Nehammer.

15 Prozent mehr Working Poor seit 2020

In Österreich sind jedoch immer mehr Menschen von Armut betroffen, obwohl sie erwerbstätig sind. Laut einer aktuellen Studie der European Union Statistics on Income and Living Conditions (EU-SILC) traf das 2022 auf insgesamt 331.000 Menschen in Österreich zu. Das sind um elf Prozent mehr als noch 2021. Im Vergleich zu 2020 betrug der Anstieg sogar 15 Prozent. Als armutsgefährdet gilt in Österreich, wer monatlich weniger als 1.392 Euro zur Verfügung hat – das sind unter 60 Prozent des Medianeinkommens. Als Working Poor gelten jene Menschen, die länger als sechs Monate erwerbstätig waren und trotzdem armutsgefährdet sind. Besonders betroffen seien Alleinerziehende und Familien mit drei oder mehr Kindern.

Damit "Armut trotz Arbeit" endlich der Vergangenheit angehört, brauche es Änderungen bei den Einkommen, forderte Sozialminister Johannes Rauch (Grüne) in einer Aussendung am 1. Mai. "Nach wie vor gibt es in Österreich Branchen, in denen Löhne gezahlt werden, mit denen arbeitende Menschen ihren Lebensunterhalt nicht decken können. Da muss sich die Wirtschaft endlich bewegen", betont Rauch. Zudem forderte der Sozialminister weitere Investitionen in die Kinderbetreuung, damit Alleinerzieherinnen und Familien mit Kindern attraktive Jobs auch annehmen können, und eine Millionärssteuer, mit deren Einnahmen kleine Einkommen angehoben werden könnten.

Armutskonferenz warnt vor Denkfehler

Die Armutskonferenz warnt, dass sich in der Teuerungsdebatte der Denkfehler breitgemacht habe, es wäre alles wieder okay, wenn die Inflation abgegolten werde. "Das stimmt dort, wo vorher alles okay war. Dort aber, wo schon seit jeher massive Lücken aufgetreten sind, kommt die Teuerung jetzt dazu", heißt es in einer Aussendung des Netzwerks Armutskonferenz. "Ärmeren wirklich helfen heißt also, die Teuerung auszugleichen und die Probleme von vorher zu lösen."

Auch die Arbeiterkammer hält das Antiteuerungspaket für zu wenig, zu spät. "Die wirklichen Probleme der Menschen wurden wieder nicht angegangen: "Wo bleiben die Mietpreisbremse, die Wärmekostenbremse und ein Stopp der hohen Lebensmittelpreise?", betont AK-Präsidentin Renate Anderl.

Rekordbeschäftigung und Rekord an offenen Stellen

Österreich verzeichne aktuell die höchste Erwerbsquote aller Zeiten. "Es arbeiten im Verhältnis zur österreichischen Bevölkerung mehr Menschen als je zuvor", zeigte sich der Arbeits- und Wirtschaftsminister Martin Kocher (ÖVP) am 1. Mai erfreut. Gleichzeitig gebe es derzeit einen Rekord an offenen Stellen. Beim AMS sind derzeit knapp 113.000 offene Arbeitsplätze gemeldet. Damit sind 4,6 Prozent aller Stellen in Österreich unbesetzt – das ist der höchsten Anteil in ganz Europa. Laut Kocher sei es eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, durch den Ausbau der Kinderbetreuung und gesundes Arbeiten bis zum Pensionsantritt das inländische Arbeitskräftepotenzial zu heben. Gleichzeitig brauche es internationale Schlüsselkräfte, um den steigenden Bedarf zu decken. (Stefanie Ruep, 11.5.2023)