Im "Samen Köller" zwitschern die Vögel aus allen Ecken. Schließt man die Augen, piepst und pfeift es rundherum. Man glaubt, sich in einem Dschungel wiederzufinden. Dabei steht man in einem kleinen, urigen Geschäft gegenüber des Grazer Kunsthauses, an dem Menschenmassen vorbeilaufen und Bims im kleinstädtischen Sechsminutentakt vorbeischeppern. Es sind unsichtbaren Boxen, die den Vogelgesang abspielen.

Auf der einen Seite des Geschäfts glitzern die Rosenkugeln in mattem Rost und kräftigem Weinrot aus den Regalen. Tassen in Kuhkopfform und Stoffmasken mit Fuchsporträt, bei denen man sich fragt, ob Kindergeburtstag oder Sexparty, füllen die Kästen bis fast zur Decke. Hier hat man den Firlefanz zwischen Handschaufeln und Gießkannen untergebracht.

2011 haben die Geschwister das Geschäft übernommen. Samenraritäten bieten sie ebenso an wie Blumenknollen, Gartenwerkzeug und ein bisschen Klimbim.
Foto: J.J. Kucek

An der anderen Wand türmen sich dagegen hunderte kleine Schubladen mit dem wirklich Relevanten meterhoch auf. "150 sind’s", sagt Gabi Medan. Sie ist gemeinsam mit ihrem Bruder Fritz Zemann die Chefin der Samenhandlung Köller. Schaut man genauer hin, ist jede der grauen Laden per Hand beschriftet, manche ziert ein eingefasstes Blatt Papier mit einer Illustration eines Gemüses. Eine aufgeschnittene Melone, "Cucumis melo", wie das Hinweisschild verrät, ist über dem Rettich eingeordnet. Hier drinnen, in diesem Lädchen, befinden sich die Schätze der Geschwister: die Samen, aus denen Obst, Gemüse, Blumen und Kräuter gezogen werden.

Auf der einen Seite des Geschäfts glitzern die Rosenkugeln aus den Regalen.
Foto: J.J. Kucek

Laden voller Geschichte

Medan öffnet eine der Schubladen und zeigt mir deren Besonderheit. Kleine Kerben im Inneren deuten auf eine Unterteilung hin, auf der oberen Leiste sind Pflanzennamen notiert. Früher war darin loser Samen, den man mit kleinen Messinglöffeln herausgelöffelt hat, erzählt Medan. "Es gab einen Löffel, der war für genau ein Gramm Vogerlsalatsamen. Für ein Gramm Erdbeersamen brauchte man wieder einen anderen Löffel", weil sich eben das Volumen der Samen so stark unterscheidet. Eine genaue und aufwendige Arbeit, die sich Medan heute nicht mehr antut. "Mache Leute wundern sich, warum wir alles nur abgepackt verkaufen", sagt sie lachend. Wo heute die Cocktailtomatenpackerln liegen, fand man früher "Ageratum", "Blaue Kugel", eine Pflanze mit rundlichen, hellvioletten Blüten.

Früher heißt nicht vor 60 oder 100 Jahren. Den Samen Köller, wie man das Kleinod nennt, gibt es seit mehr als 250 Jahren. Als "Samenhandlung zum schwarzen Rettig" existiert das Geschäft seit 1773 im selben Haus am Grazer Südtiroler Platz. Der uralte Name ziert noch heute das prunkvolle Eingangsportal des Geschäfts. Nicht immer wurden hier Samen und Gartenutensilien gehandelt. Ursprünglich vertrieb man Devotionalien, also Heiligenbildchen, Marienfiguren und Kruzifixe. Priester und Mönche kamen nach Graz, erzählt Medan, und ließen Samen zum Verkauf im Geschäft zurück. Daraus entstand über die Zeit die Samenhandlung. Die späteren Namensgeber, die Familie Köller, führte mehrere Samenläden in der gesamten Steiermark und gliederte den Standort in Graz mit ein. "Dort wurden auch Pflanzen, Eier und Goldfische verkauft, aber Samen waren immer das Wichtigste."

Nach zwölf Jahren suchen die Geschwister einen Nachfolger. Wie schon ihre Vorgängerin würden sie den "Samen Köller" gerne an jemanden übergeben, der das Geschäft als Samenhandlung weiterführt.
Foto: J.J. Kucek

Die Geschwister übernahmen 2011 das Geschäft. Die vorherige Besitzerin war das Lehrmädchen des Herrn Köller, wie Medan erzählt, und bekam im Laufe ihres Lebens das Geschäft von ihm geschenkt. Als sie Mitte 60 in Pension gehen wollte, war der Laden heruntergewirtschaftet, der Umsatz katastrophal. "Ein Interessent wollte daraus ein Tattoostudio machen", sagt Medan. Das wollte aber die Besitzerin nicht. Medan war zu dieser Zeit in Revitalisierungsprojekte in der Stadt eingebunden. Als sie sich das freiwerdende Geschäft anschaute, blieb eines bei ihr hängen: der Geruch. "Es hat nach Vogerlsalat geduftet", sagt sie mit verträumtem Blick. Sie holte ihren Bruder ins Boot und setzte ihre Idee um, neben Samenraritäten und Samen von kleinen Anbauern auch "schöne Sachen" anzubieten, wie sie sagt.

Wissen von Oma und Mama

Sie arbeitete bei der Caritas, er war bei Ikea tätig: Wie passt das mit einer jahrhundertealten Samenhandlung zusammen? "Ja klingt eh komisch", sagt Medan selbstironisch. Aber ganz aus der Luft gegriffen ist es dann doch nicht. Ich erzähle ihr von meinem südseitigen Balkon, auf den im Sommer die Sonne gnadenlos herunterbrennt. "Der Griechische Basilikum oder der Libanesische Oregano ist dafür super. Thymian oder Majoran halten die Hitze auch aus", empfiehlt sie mir prompt. Durch ihre Oma und ihre Mama hatten die Geschwister immer viel mit Pflanzen zu tun und haben viel Wissen für ihr Geschäft mitbekommen. Die Großmutter wusste zu jedem Pflänzchen eine Geschichte, jedes Kraut und Gemüse hat sie verkocht, getrocknet und eingelegt. "Pilze mit Würmern oder ohne, alles ist verwendet worden, gell." Vieles lernt sie heute noch von ihrer Kundschaft. "Es gibt Bäuerinnen, die sagen, Petersilie kann man nur am Mittwoch anbauen." Warum das so sein soll, weiß die Samenhändlerin nicht, aber nur mit diesem Trick soll das notorisch schwer ziehbare Kraut wirklich wachsen.

150 Laden, gefüllt mit teilweise seltenen Samen. Am gefragtesten sind Tomaten, sagt Medan. Deren Zeit der Aussaat ist aber vorbei, jetzt sollte man Bohnen und Kürbis anpflanzen.
Foto: J.J. Kucek

Samenhändler gesucht

Medan schiebt einen Samenständer zur Seite. Dahinter ist ein kleiner Durchgang mit einer himmelblauen Wendeltreppe versteckt, die ins obere Stockwerk führt. Für mich als 1,90-Meter-Mann heißt es Kopf einziehen. Sie zeigt mir das Lager, dessen kleines Halbkreisfenster. Es gibt nur spärliches Tageslicht, die Böden sind etwas verstaubt, auf dem Fensterbrett steht ein überdimensionierter Einsiedlerkrebs aus Metall, der mich an das ganze Graffelwerk im Garten meiner Eltern erinnert. Hier heroben flüstert mir Medan etwas: "Ich bin ja schon 65 und mein Bruder 63. Es ist schon schmerzhaft, aber wir würden das Geschäft hergeben. Wir suchen einen Nachfolger." Am liebsten würden die beiden Geschwister das Geschäft an jemanden weitergeben, der es als Samenhandlung führt. "Es ist die letzte in Österreich, das ist erhaltenswert."

Wir gehen wieder nach unten, eine Kundin fragt Medan nach Goldmelisse. Während sie berät, versuche ich den Vogerlsalat wahrzunehmen, in den sich Medan bei ihrem ersten Besuch vor zwölf Jahren verliebt hat. Vergeblich. Stattdessen höre ich nur das unermüdliche Gezwitscher der Vögel. (Kevin Recher, 21.5.2023)