Schlange vor einem Caritas-Sozialmarkt: Die Krise produziert bedrückende Bilder – doch nüchterne Zahlen zeigen mitunter eine weniger dramatische Realität.

Foto: Regine Hendrich

Es ist ein düsteres Bild, das Kritiker aus allen Ecken zeichnen. Untätig schaue die türkis-grüne Koalition zu, wie immer mehr Menschen ihre Rechnungen nicht bezahlen könnten, schimpfen SPÖ und FPÖ seit einem Jahr. Ebenso regelmäßig berichten Hilfsorganisationen von kalt gebliebenen Wohnungen, Schlangen vor Sozialmärkten und bereits in die Mittelschicht kriechender Not. Unlängst stellte die Kronen Zeitung per Titelschlagzeile fest: "Regierung versagt beim Kampf gegen Armut."

Ein hartes, aber gerechtes Urteil? Wer allgemeingültige Aussagen abseits bedrückender Einzelschicksale sucht, wird in einer Analyse des Budgetdienstes im Parlament fündig. Die regierungsunabhängige Stelle hat berechnet, wie stark die diversen Antiteuerungspakete die 2022 losgebrochene Preislawine abgefangen haben – und zeigt, zumindest zum Teil, eine andere Version der Realität.

Inflation im Jahr eins ausgeglichen

Beginnen wir im ersten Jahr der Teuerungskrise. Dank der staatlichen Hilfen, die von Direktzahlungen an Bedürftige bis zu breit per "Gießkanne" gestreutem Geld reichten, sind die Haushaltseinkommen 2022 laut Budgetdienst im Durchschnitt stark genug gewachsen, um die inflationsgetriebenen Mehrausgaben mehr als zu kompensieren. Gerade die mit den niedrigsten Einkommen ausgestatteten "unteren" 20 Prozent seien sogar mit einem deutlichen Plus ausgestiegen. Die vermeintliche Binsenweisheit, wonach den Leuten massenhaft das Geld ausgegangen ist, lässt sich da nicht herauslesen.

Aber wie passt das zu gegenteiligen Berichten, die auf repräsentativen Befragungen beruhen? Immerhin hat die hochseriöse Statistik Austria eben festgestellt, dass die Zahl der erheblich materiell und sozial benachteiligten Menschen 2022 von 1,8 auf 2,3 Prozent der Bevölkerung stieg. Macht 201.000 Personen, die nunmehr stark von Armut betroffen sind.

Eine Erklärung für den Widerspruch bietet der Zeitpunkt. Die Erhebung fand im ersten Halbjahr 2022 statt, als die Preise gerade nach oben kletterten. Viele der Regierungshilfen waren da noch nicht beschlossen, geschweige denn ausbezahlt. Wer keine Ersparnisse zur Überbrückung hat, muss in so einer Situation sofort den Gürtel enger schnallen.

Was hinter düsteren Zahlen steckt

Überdies gilt es, die Dimensionen im Auge zu behalten. Trotz Anstiegs blieb das Niveau vergleichsweise niedrig; im ersten Halbjahr 2020, unmittelbar nach Antritt der amtierenden Regierung, lag die Quote der Armutsbetroffenen noch bei drei Prozent. Im Schnitt der Eurozone ist der Level mit 5,7 Prozent (2021) ohnehin beträchtlich höher.

Von einem leichten, aber keinesfalls dramatischen Zuwachs spricht Martin Schenk, als Mitbegründer der Armutskonferenz der Schönfärberei unverdächtig. Aus der zuständigen Fachabteilung der Statistik Austria heißt es auf STANDARD-Anfrage gar: Der Anstieg sei "nicht signifikant", weil bei einer Stichprobe von 5900 Haushalten innerhalb der Schwankungsbreite. Ein Plus wie dieses solle nicht überbewertet werden, aussagekräftig sei eher der längerfristige Trend.

Auch andere Resultate bedürfen eines Beipacktextes. Wenn bei einer Befragung der Statistik unlängst ein Drittel der 16- bis 69-Jährigen angegeben hat, im Vorjahr Einkommensverluste erlitten zu haben, dann handelt es sich um eine subjektive Selbsteinschätzung. Niemand ist dabei verpflichtet, eine mühsame Berechnung anzustellen, wie viel Finanzkraft die Inflation wirklich weggefressen hat.

Er frage sich, ob die Menschen die schwer überblickbaren staatlichen Transferleistungen überhaupt allesamt zum Einkommen zählten, sagt der grüne Sozialsprecher Markus Koza und vermutet, dass die allgemeine Stimmungslage auf Einschätzungen abfärbt: "Wenn dauernd behauptet wird, Teuerungshilfen verpufften, dann macht das Eindruck."

Die Verlierer der Krise

Damit soll aber keinesfalls behauptet werden, die Geschichten vom Inflationsleid seien per se übertrieben oder gar falsch. Wichtig ist zur Einordnung: Die erfreuliche Erkenntnis der Budgetdienst-Studie gilt für den Durchschnitt. Wie stark die Teuerung jemanden beutelt, unterscheidet sich jedoch nach Lebenslage – von der Heizform über die Wohnsituation bis zum Erwerbsstatus – beträchtlich. Das ist in der Gruppe der Ärmeren nicht anders. Ein Mindestpensionist etwa wurde weit besser mit staatlicher Unterstützung bedient als ein seit Monaten Arbeitsloser, dem die Regierung auf Betreiben der ÖVP eine Inflationsanpassung von Arbeitslosengeld oder Notstandshilfe verwehrt.

Es ist deshalb kein Widerspruch, wenn die Caritas anhand einer Umfrage feststellt, dass die Inflation Arme noch ärmer gemacht habe: Fast alle der vom Sora-Institut Befragten gaben an, dass sie ihren Verbrauch an Strom, Heizung und Treibstoff 2022 deutlich einschränken mussten. Es handelt sich dabei um Klienten einer Sozialberatungsstelle. Dort finden sich natürlich jene ein, denen die Teuerung aus ihrer persönlichen Situation heraus besonders arg zu schaffen macht.

Unterm Strich aber stellt der Sozialexperte Schenk der Armutsbekämpfung im ersten Jahr der Preisexplosion kein schlechtes Zeugnis aus. "Die von der Regierung beschlossenen Unterstützungen kamen nicht nur, aber auch stark dem unteren Einkommensdrittel zugute", sagt er: "Der große soziale Absturz wurde verhindert, das muss man anerkennen. In der Debatte kommt das oft zu kurz."

Gestiegene Not im neuen Jahr

Für das heurige, zweite Jahr der Inflationskrise urteilt Schenk allerdings weit weniger positiv. "Die Eindämmung funktioniert nun nicht mehr", sagt er und berichtet von massiv gestiegenem Andrang in Sozialberatungen der Hilfsvereine: Da sei tatsächlich zu beobachten, dass immer mehr Menschen nicht mehr über die Runden kommen.

Wenn das Einkommen nicht mehr reicht, um die Einkaufstrolleys zu füllen: Weil die Sozialhilfe versage, werde Not zunehmend privatisiert, warnen Kritiker.
Foto: Regine Hendrich

Zwar bieten die türkis-grünen Antiteuerungspakete auch für 2023 manches, das besonders unteren Einkommen hilft: Erstmals wurden Sozialleistungen wie die Familienbeihilfe, die davor schleichend an Wert verloren, automatisch mit der Inflation erhöht. Doch auf "vulnerable Gruppen" zugeschnittene Sonderzahlungen fehlen bislang. Dafür gibt die Regierung viel Geld für eine Entlastung aus, die großteils "oben" ankommt: Von der 1,8 Milliarden teuren Abgeltung der sogenannten kalten Progression bei der Lohn- und Einkommensteuer profitiert zu 69 Prozent die bessergestellte Bevölkerungshälfte.

Das Resultat laut Prognose des Budgetdienstes: Heuer könnten lediglich die Bezieher höherer Einkommen damit rechnen, die inflationsbedingten Mehrausgaben kompensiert zu bekommen. Je niedriger hingegen die Einkünfte, desto größer die drohende Lücke.

Mit einigem Recht meldet der Grüne Koza an dieser Stelle einen Einspruch an. Weil die Vorausschau aus dem vergangenen Herbst stammt, fehlen seither beschlossene Goodies. Doch beim Budgetdienst geht man davon aus, dass diese die Situation nicht völlig umdrehen werden. Verbesserung ja – aber gerade für Menschen mit niedrigem Einkommen werde sich die Abgeltung der Inflation nach derzeitigem Stand dennoch nicht ausgehen.

Einhellige Forderungen

Dem Ruf der Sozialvereine nach zusätzlichen Hilfen schließen sich deshalb längst auch Ökonomie-Kapazunder wie die Chefs von Fiskalrat und dem Wirtschaftsforschungsinstitut (Wifo) an. "Aber diesmal bitte zielgerichteter als bisher oft der Fall", mahnt Wifo-Experte Josef Baumgartner. Denn die bisher so gern verwendete Gießkanne verteile zulasten des Staatsbudgets nicht nur Geld an Gruppen, die den Preisanstieg aus eigener Finanzkraft stemmen könnten. Je breiter Hilfen gestreut werden, desto stärker fache die generierte Nachfrage die Inflation weiter an.

Konkret empfiehlt Baumgartner, Arbeitslosengeld und Notstandshilfe an die Inflation anzupassen sowie Sozialhilfe und Ausgleichszulage, vulgo Mindestpension, aufzubessern. Nicht nur das Leistungsniveau müsse steigen, auch der Kreis der Anspruchsberechtigten solle ausgeweitet werden.

Es ist nicht so, dass die Forderungen in der Regierung auf taube Ohren stoßen. Die Grünen sind für all das zu haben; auf der Bremse steht die ÖVP, die davor warnt, dass zu hohe Leistungen vom Arbeiten abhielten. Auch angesichts der immer lauteren Forderungen rückte Kanzler Karl Nehammer von dieser Argumentation nicht wirklich ab. Aber zumindest haben die Koalitionäre nun neue Maßnahmen gegen Kinderarmut angekündigt.

Passiere nichts, setze sich die Privatisierung der sozialen Not fort, warnt Kritiker Schenk. Seit die türkis-blaue Koalition unter Sebastian Kurz die einstige Mindestsicherung zur mit Obergrenzen ausgestatteten Sozialhilfe zurückgebaut hat, biete diese nicht mehr ausreichend Unterstützung. Die Teuerung verschärfe nun Leid, das schon davor bestanden habe: "Die Ämter schicken die Menschen zu Hilfsorganisationen wie Caritas und Diakonie, weil sie nicht mehr helfen dürfen." (Gerald John, 14.5.2023)