Der Schriftsteller und Essayist Karl-Markus Gauß schreibt in seinem Gastkommentar über den Aufstieg der FPÖ und die politische Konkurrenz, die das einfach hinzunehmen scheint.

In der Zauberposse Der böse Geist Lumpazivagabundus, einem der bekanntesten Theaterstücke der österreichischen Literatur, hat Johann Nepomuk Nestroy eine unvergessliche Figur geschaffen, die er bei den ersten Aufführungen 1833 auch selber auf der Bühne verkörperte. Der Schustergeselle Knieriem, der sein Leben in einem zugleich gemütvollen und grobianischen Dauerrausch verbringt, weiß sich jede Zumutung, doch an morgen zu denken und deswegen schon heute etwas Vernünftiges zu tun, mit einem Spruch von eherner Gewissheit zu verbieten: "Es ist nicht der Müh’ wert wegen der kurzen Zeit. In ein Jahr kommt der Komet, nachher geht eh’ die Welt z’grund." Wer ihm rät, wenigstens auf seine ureigenen Angelegenheiten zu achten, bekommt alle drei Aufzüge des Stückes hindurch die immer selbe Lehre zu hören: Bald wird der Komet kommen, darum "wird einem halt angst und bang / Die Welt steht auf kein Fall mehr lang".

Träumt schon von einem "freiheitlichen Volkskanzler": FPÖ-Chef Herbert Kickl gab in seiner Bierzeltrede am 1. Mai die Richtung für die Parteifreunde vor.
Foto: APA / Werner Kerschbaummayr

Der Komet von heute heißt Herbert Kickl, und eine interstellare Konfusion in unseren politischen Gestirnen scheint zu bewirken, dass er sich unabwendbar und unaufhaltsam nähert, um nächstes Jahr krachend in Österreich, exakt auf dem Ballhausplatz in Wien, aufzuschlagen. Welchen politischen Kommentator ich auch lese, mit wem immer ich spreche, alle tun so, als wäre dieser Komet kein politisches Irrlicht, sondern ein kosmisches Verhängnis, und Woche für Woche scheinen mehr Leute in Österreich daran zu zweifeln, dass er sich noch ohne die Hilfe der Geister, die in Nestroys Stück die Regie führen, würde aufhalten lassen.

"Der zweimalige Versuch, mit der FPÖ eine Koalitionsregierung zu bilden, hat die FPÖ nicht domestiziert, sondern barbarisiert."

Dabei erreicht die Kometenpartei in den Bundesländern, in denen sie ihre größten Triumphe gefeiert hat, in Salzburg, Niederösterreich, Kärnten, gerade 25 Prozent, also ein Viertel der Stimmen, in anderen Bundesländern steht sie schwächer da, und selbst jene politischen Analysten, die in den Medien eine Art von lustvollem Entsetzen zelebrieren, trauen der FPÖ nirgendwo zu, mehr als ein Drittel der Stimmen zu gewinnen.

Das ist viel, enorm viel, und vor Jahren würde ich jeden, der mir solches prophezeit hätte, für einen Zyniker gehalten haben, dem es gerade recht ist, wenn sich die Dinge so schlecht entwickeln, dass sie ihn in seiner schlechten Meinung von der Welt bestätigen. Ein Viertel, ein Drittel der Stimmen, das ist viel, enorm viel, aber doch zu wenig, um ein Land so zu übernehmen, wie Kickl das seinen Anhängern in der Linzer Bierzeltrede vom 1. Mai vorgebrüllt hat.

Historische Rede

Diese Rede, nebenbei angemerkt, hat das Zeug, in die Ideologiegeschichte der Zweiten Republik einzugehen, hat doch bisher keiner, der damit insgeheim spekulieren mochte, so unverblümt mit dem autoritären Umbau der Republik gedroht, nein, geradezu renommiert: Jedenfalls wird niemand sagen können, Kickl hätte sie im Unklaren darüber gelassen, was er machen wird, wenn man ihn lässt, und gegen wen er seinen Kampf um Österreich führt, nämlich gegen die Demokratie selbst. Das gilt für alle, besonders aber für jene in der ÖVP, die ihm, um ihn von der Macht fernzuhalten, seltsamerweise Brücken bauen und die mit seinen Vasallen und Statthalterinnen in den Bundesländern Bündnisse schließen, um sich gegen ein solches mit ihm in Wien zu wappnen.

Die ÖVP hat es in den letzten Jahren immer rabiater damit probiert, Forderungen der FPÖ aufzugreifen und als eigene Anliegen zu propagieren. Das hatte zwei vorhersehbare Folgen: zum einen, dass eine bürgerliche Partei der Mitte ihre Identität verändert hat und zur Rechtspartei geworden ist; zum anderen, dass sie damit die Freiheitlichen gedrängt hat, sich beständig zu radikalisieren. Der zweimalige Versuch, mit der FPÖ eine Koalitionsregierung zu bilden, hat die FPÖ nicht domestiziert, sondern barbarisiert. Das ist auch logisch, denn erwächst ihr auf dem rechten Spektrum Konkurrenz aus der einstigen Mitte, bleibt ihr aus Gründen des Selbsterhalts nichts anderes, als sich noch extremere Ziele zu setzen und diese mit noch bösartigerer Rhetorik zu verfechten.

Wankende Großparteien

Ich gehöre nicht zu denen, die am Niedergang der beiden traditionellen Großparteien ihr Gefallen finden. Als sich Johanna Mikl-Leitner, ihr zur Schande und Niederösterreich zum Schaden, mit der FPÖ verbündete (und von Udo Landbauer beim ersten gemeinsamen Auftritt auch gleich mit geradezu sadistischer Energie vorgeführt wurde), haben viele zu Recht empörte Kritiker eine gewisse Genugtuung darüber nicht verborgen, dass die ÖVP endlich wieder mal ihr wahres Gesicht gezeigt habe. Der Publizist Peter Huemer, unverdächtig, übertriebene Sympathie für die Konservativen zu hegen, hat hingegen betont, wie wichtig für Österreich eine ÖVP ist, die zwar für ihr Klientel in Stadt und Land eine konservative Politik betreibt, aber der Verlockung, sich zum Zwecke des Machterhalts mit den Rechtsextremen zu verbünden, widersteht.

Tatsächlich ist, wo die großen sozialdemokratischen und konservativen Parteien untergegangen sind, oft nichts Besseres nachgefolgt. Muss man daran erinnern, dass auf das schmähliche Ende der rundum korrupten Democrazia Cristiana und der von Skandalen zerlegten Partito Socialista in Italien Silvio Berlusconi, Matteo Salvini, Giorgia Meloni folgten – und mit ihnen neue Parteien, gegenüber denen die alten noch fast als Hüter humanistischer Werte durchgehen könnten?

"Es besteht kein Grund, seine bittere Freude am beklagenswerten Zustand von ÖVP und SPÖ zu haben."

Es besteht also gar kein Grund, seine bittere Freude am beklagenswerten Zustand von ÖVP und SPÖ zu haben. Am aufhaltsamen Aufstieg der FPÖ hat die SPÖ am meisten gelitten, sie hat aber auch am meisten zu diesem beigetragen. Sie hat die Interessen der sogenannten kleinen Leute so schlecht verfochten oder eher so gut aus den Augen verloren, dass sich ausgerechnet die FPÖ, die als Regierungspartei konsequent den Abbau des Sozialstaates vorangetrieben hat, als deren Schutzpatron aufspielen konnte.

Die SPÖ zerfällt nicht so sehr in die Fraktionen der drei Kandidaten, die sich um den Parteivorsitz bewerben. Eher gibt es da die eine Fraktion, deren Funktionäre sich noch immer nicht vorstellen können, dass es eines Tages um eine sozialdemokratische Partei einfach geschehen sein kann, weil sie, wie in Frankreich, zur marginalen Gruppe geschrumpft ist; und die andere, die schon bei Nestroy angekommen und panisch überzeugt ist, dass ohnedies kein Weg mehr für sie aus dem Untergang hinausführt. Es gibt diesen Weg aber.

Gehör verschaffen

So wenig es der ÖVP vorbestimmt ist, gegen den Wunsch vieler ihrer Mitglieder Kickl den Weg ins Bundeskanzleramt zu ebnen, so wenig ist die SPÖ verpflichtet, in einer sozialen Krise wie der jetzigen der Bevölkerung zu beweisen, dass sie sich lieber als mit deren Problemen mit sich selbst beschäftigt.

Da die Parteien sich bockig zeigen und, schuldig wegen ihrer Taten oder ihrer Tatenlosigkeit, drauf und dran sind, die FPÖ zur stärksten Partei Österreichs zu machen, ist es an der Gesellschaft, eigene Initiativen zu entfalten, um den 75 Prozent, die diese Partei nicht gewählt haben, Gehör zu verschaffen. Immer noch sind es drei Viertel der Österreicher und Österreicherinnen, die sich nicht das Österreich wünschen, das Kickl ihnen verspricht – oder mit dem er ihnen droht. Dieses Irrlicht ist kein kosmisches Verhängnis, dem die Republik ausgeliefert wäre, sondern eine politische Gefahr, der wir uns zu stellen haben. Der Komet im Lumpazivagabundus kommt übrigens nicht, der wackere Knieriem muss sich etwas anderes finden, um eine Ausrede für seine Lethargie zu haben. (Karl-Markus Gauß, 14.5.2023)