Seit Jahresanfang gehen hunderttausende Israelis im Kampf gegen die Regierung und ihre Justizreform jede Woche in Tel Aviv und anderen Städten auf die Straße. Es ist auch ein Kampf um die Seele und die Zukunft des Staates.
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"De-mo-kratia, De-mo-kratia", skandieren die Demonstranten stundenlang am ersten Samstagabend im Mai in Israels Städten, wie auch schon in den 17 Wochen davor. Die Massenproteste gegen die Justizreform gegen die rechte Regierung von Premier Benjamin Netanjahu haben weite Teile der Bevölkerung seit Jahresanfang im Griff und sind auch nicht abgeflaut, seit Netanjahu Verhandlungen über die umstrittenen Gesetzesvorlagen zugestimmt hat. Bloß für diesen Samstag wurden die meisten Demonstrationen wegen des Raketenfeuers aus dem Gazastreifen landesweit abgesagt.

Vor dem Amtssitz von Staatspräsident Yitzhak Herzog, der die Gespräche leitet, in Jerusalem steht inmitten eines blau-weißen Fahnenmeers ein Mann mit einer anderen Botschaft: "Demokratie und Besatzung können nicht koexistieren", steht auf seinem Schild. Er weiß, dass er damit ziemlich allein ist, sagt Mosche resigniert. "Und ich werde auch niemanden überzeugen." Denn die Besatzungspolitik, mit der Israel seit dem Sechstagekrieg 1967 Millionen von Palästinensern im Westjordanland zu Menschen zweiter Klasse macht, wird bei den Protesten zumeist verschwiegen.

Angst vor der Spaltung

Das geschehe aus taktischen Gründen, hört man von jenen Israelis, die den Siedlungsbau und das brutale Vorgehen des israelischen Militärs gegen Palästinenser ablehnen. Denn die Protestbewegung hat auch religiöse und rechte Unterstützer gewonnen, die in der drohenden Entmachtung des obersten Gerichtshofs eine Säule des Rechtsstaates in Gefahr sehen, aber keine Zugeständnisse an Palästinenser machen wollen. "Das Thema Besatzung kann die Protestbewegung spalten, und davor haben viele Angst", sagt der Historiker Paul Liptz. "Was sie allein eint, ist das Gefühl der Bedrohung durch diese Regierung." Und das sei viel stärker als jede Kritik an der Besatzung.

Die politische Landschaft Israels im Frühjahr 2023 ist voller Widersprüche. Netanjahu hat mit Ultraorthodoxen und Rechtsextremen die rechteste Regierung, die das Land je kannte, mit einer stabilen Mehrheit im Parlament gebildet. Doch Aufbruchstimmung herrscht bei den Gegnern, die seit Jahresanfang Woche für Woche auf die Straße gehen. "Das liberale Lager der säkularen und weltoffenen Israelis hat jahrelang geschlafen und ist jetzt aufgewacht", sagt ein führender Organisator der Proteste, der nicht namentlich genannt werden will. "Die Menschen sind berauscht."

Lebensstil im Fokus

Es geht ihnen nicht nur um die Details der umstrittenen Justizreform in einem Land ohne Verfassung, sondern um die Verteidigung eines Lebensstils, der im Gegensatz zur Ultraorthodoxie und zu den nationalistischen Siedlern steht. Der Protestbewegung ist es gelungen, den Patriotismus der Israelis, der so lange den Rechten in die Hände gespielt hat, für sich zu nutzen. Die israelische Fahne ist zum Symbol des Widerstands geworden.

In der Koalition wachsen inzwischen die Spannungen zwischen Netanjahu und den Rechtsextremisten Itamar Ben-Gvir und Bezazel Smotrich, die dem Premier Schwäche vorwerfen, weil er die Justizreform nicht durchzieht. Die Ultraorthodoxen wiederum pochen auf finanzielle und religiöse Versprechen, die Netanjahu nicht einhalten kann.

Netanjahus Likud ist in den Umfragen deutlich zurückgefallen; allerdings könnte der seit Tagen anhaltende Raketenbeschuss aus dem Gazastreifen der Regierung wieder Aufwind geben. Aber gleichzeitig untergräbt der erneute Schlagabtausch mit der Hamas und dem Islamischen Jihad Netanjahus zentrale Botschaft: dass nur er den Israelis die Sicherheit geben kann, die sie sich nach 75 Jahren ständigem Kriegszustand wünschen.

22 Menschen sollen auf palästinensischem Territorium ums Leben gekommen sein. Im Gegenzug sollen rund 400 Raketen aus Gaza in Richtung auf Israel abgeschossen worden sein.
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Verteidigung des Status quo

Es ist dieses Streben nach Sicherheit, das die Protestbewegung anfeuert, sagt der Journalist Haggai Matar, Direktor des +972 Magazine, einer linken binationalen Online-Publikation. "Die Demonstranten verteidigen den Status quo, mit dem sie sich wohlfühlen, und der schließt eine Besatzung mit ein, von der sie wenig spüren", sagt er. "Es sind die Rechtsnationalen, die eine Veränderung anstreben."

Denn formal ist die Besatzung immer noch ein Provisorium, das im Falle einer umfassenden Friedenslösung mit den Palästinensern enden würde. Ben-Gvir und Smotrich wollen den jüdischen Anspruch auf Judäa und Samaria, wie sie das Westjordanland nennen, aber endgültig durchsetzen, die Gebiete annektieren, alle Einschränkungen beim Siedlungsbau loswerden und die Palästinenser durch Schikanen vertreiben oder zwingen, ihren rechtlosen Status endgültig zu akzeptieren. Soldaten sollen freie Hand gegen jede Form des Widerstands erhalten und keine Angst vor Strafverfolgung haben. So selten das Höchstgericht auch in der Vergangenheit eingeschritten ist, betrachten sie die Richterschaft als Hindernis für ihre Pläne und kämpfen daher besonders vehement für deren Entmachtung.

Doch ein Abbau zumindest theoretischer rechtsstaatlicher Kontrollen würde nicht nur den Ruf des Landes, sondern auch den Schutz, den Israels oft brutale Politik im Westjordanland vor internationalen Gerichtsverfahren genießt, gefährden, sagt Matai – und die Besatzung damit erschweren. Auch das sei eines der Argumente der Opposition, mit denen sie die Mitte der Gesellschaft ansprechen.

Nur die Bibel

Das andere Feindbild für die Demonstranten sind die ultraorthodoxen Parteien, die dank extrem hoher Geburtenraten Jahr für Jahr an politischem Einfluss gewinnen und die Bibel als einzige legitime Rechtsgrundlage sehen. "Es gibt 150 vorgeschlagene Gesetze, die bei einem Umbau des Justizsystems umgesetzt werden könnten", sagt Liptz. "Und das würde den Charakter des Staates komplett verändern." Die Rechte von Frauen, der LGBTQ-Community, israelischen Arabern und nichtreligiösen Israelis wären in Gefahr.

Zuletzt hat sich der Widerstand auf Fragen wie die Ausnahme von der Wehrpflicht für Ultrareligiöse konzentriert, die die Mehrheit als Unrecht sieht. Schließlich müssen andere Männer drei Jahre lang dienen. Manche sehen dies als Ablenkung von den größeren Gefahren, die von dieser Regierung ausgehen.

Bestätigte Befürchtungen

Ironischerweise sieht sich die Rechte als wahre Vorkämpferin für die Demokratie, nämlich für die Durchsetzung des Volkswillens gegen eine nicht gewählte linke Elite aus Anwälten, Journalistinnen und Akademikern. Tatsächlich ist die israelische Öffentlichkeit seit dem Zusammenbruch des Oslo-Friedensprozesses vor 20 Jahren immer weiter nach rechts gerückt, allen voran die Jungen. Slogans wie "Wollt ihr nicht die Eigentümer eures Landes sein?" ziehen bei Wehrpflichtigen, die Dienst im Westjordanland versehen.

Hätte sich die Regierung Zeit gelassen und wäre sie den Umbau des Staates nach dem Vorbild Ungarns stufenweise angegangen, wäre der Widerstand wohl schwächer gewesen. Doch das kurz nach Amtsantritt vorgelegte Reformpaket "hat alle Befürchtungen über diese Regierung bestätigt", sagt Liptz.

Rechter Thinktank mit US-Einfluss

Unpopulär ist auch der Einfluss von Kohelet, einem rechten Thinktank, der hinter vielen Vorschlägen steht und stark von den US-Republikanern beeinflusst wird. Sosehr Israel unter Netanjahu eine neoliberale Wirtschaftspolitik verfolgt hat, geht deren libertäre Ideologie vielen Israelis mit ihrem kollektivistischen Gesellschaftsbild zu weit.

Niemand kann derzeit sagen, wie dieser Kampf um die Seele Israels ausgehen wird. Der ursprüngliche Plan der Regierung ist gescheitert, und nur wenige glauben, dass die Verhandlungen beim Präsidenten einen tragfähigen Kompromiss hervorbringen werden. Eher wird Netanjahu versuchen, einzelne Gesetze scheibchenweise zu beschließen, und darauf setzen, dass sich die Proteste in der Urlaubszeit im Sommer verlaufen. Wenn das seinen Koalitionspartnern zu langsam geht, drohen wieder Neuwahlen, die allerdings ohne klare Mehrheit enden könnten.

Aber je länger die Proteste anhalten und je lauter der Ruf nach Gleichheit für Frauen, Nichtreligiöse und andere erschallt, desto schwieriger wird es, die Frage der Zukunft der Palästinenser unter den Teppich zu kehren, glauben manche. "Die Besatzung ist ein Tumor für dieses Land", sagt der Organisator der Proteste. "Kommt es zu einer Verfassungskrise und dann zu einem Verfassungsprozess, dann kehrt das Thema mit Kraft zurück." Und dann würde Mosche mit seinem Plakat vielleicht nicht mehr so allein dastehen. (Eric Frey aus Jerusalem, 14.5.2023)