Egal wie die Wahlen in der Türkei am Sonntag ausgehen, der Wahlkampf war ein Lehrstück dafür, wie Demokratie in Zeiten populistischer Möchte-gern-Autokraten – Gendern einstweilen nicht nötig – aussieht. Einen illiberalen Politiker loszuwerden, der genügend Zeit hatte, "seinen" Staat umzugestalten, ist sehr schwierig. Möge man zumindest in Europa die Lehren daraus ziehen.

Kemal Kılıçdaroğlu, der Herausforderer von Präsident Recep Tayyip Erdoğan, wurde zuletzt in Umfragen leicht favorisiert. Dass sich Kandidat Muharrem İnce, der aus dem gleichen politischen Umfeld wie Kılıçdaroğlu stammt, zurückgezogen hat, könnte diesem helfen, bei der Präsidentschaftswahl über die 50-Prozent-Marke zu kommen. Wenn er hingegen in eine Stichwahl mit Erdoğan muss, wird sich der Anführer des oppositionellen Sechs-Parteien-Blocks einmal mehr mit dem geballten Apparat konfrontiert sehen, den sich Erdoğan in den vergangenen Jahren zurechtgeschnitzt hat.

Stehen am Sonntag in der Türkei zur Wahl: Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan und sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu.
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Bei der Parlamentswahl hat sich Erdoğan das Wahlrecht so gerichtet, dass es nicht Allianzen, sondern Parteien bevorzugt: dass also seine AKP die größte Partei bleiben wird. Vor einer drohenden "Spaltung" der Macht – Präsidentschaft bei der Opposition, Parlament bei der AKP – und einer angeblichen Schwächung der Türkei wird von Erdoğan vor einer etwaigen zweiten Runde entsprechend gewarnt werden.

Verleumdungen und Deepfakes

Er kann dabei nicht nur auf die Bürokratie, sondern auch auf die Medien bauen: Sie haben während des Wahlkampfs mehrheitlich brav die Botschaft von den Errungenschaften des Patriarchen getrommelt – und die Systemsünden wie Korruption, Freunderlwirtschaft und Staatsversagen auf allen Ebenen, die sich fatal beim Erdbeben Anfang Februar zeigten, geflissentlich verschwiegen. Der Zustand der türkischen Wirtschaft mit ihrer Hyperinflation war nicht zu verheimlichen, aber Erdoğans konservative Wähler und Wählerinnen sind gottergeben.

Umso mehr, als die Dämonisierung Kılıçdaroğlus und insgesamt aller Linken, Liberalen und sich als solche identifizierenden Kurden und Aleviten durch Erdoğan systematisch betrieben wurde. Demnach wäre der gesetzte 74-jährige Chef der kemalistisch-sozialdemokratischen CHP ein Terroristenfreund, ein LGBTQ-Aktivist und ein Feind des Islam. Was für unsere Ohren lächerlich klingen mag, verfängt bei einem Publikum, für das seit Jahren die demokratische kurdische Partei HDP mit Terrorismus gleichgesetzt wird und das den sunnitisch-konservativen Islam à la Muslimbruderschaft als einzig richtigen sieht, sehr wohl.

Im Wahlkampf wurde mit plump gefälschten Verleumdungen und sogar Deepfakes gearbeitet, und zuletzt stellte Kılıçdaroğlu in den Raum, dass auch Russland seine Finger im Spiel habe. Ja, mit Erdoğan würde auch Wladimir Putin die Wahlen verlieren. Es geht am Sonntag auch um die künftige außenpolitische Ausrichtung der Türkei. Auch für Europa sind es die wichtigsten Wahlen im Jahr 2023. (Gudrun Harrer, 13.5.2023)