Autorin mit schwäbischer Wortgewalt: Sibylle Lewitscharoff.

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In ihrem späten, durchaus selig versponnenen Roman Von oben (2019) schlug sie dem Tod, diesem zudringlichsten aller Fallensteller, ein endgültiges Schnippchen. Aus reinem Übermut schlüpfte Sibylle Lewitscharoff, die Stuttgarter Meistererzählerin, in die Rolle eines Philosophieprofessors. Dieser ist zwar verstorben, will und kann aber von der Welt, wie er sie gekannt hat, noch nicht lassen. Wie ein Ballon, dem nicht laue Luft, sondern wirbelige Prosa entströmt, schwebt dieser Kauz über das Berliner Regierungsviertel.

Er, ein Alt-Achtundsechziger von gezügeltem Temperament, blickt vom Himmel herab und ergeht sich in beunruhigenden Spekulationen. Er urteilt über Gott und die Welt – und findet trotzdem ausreichend Gelegenheit, anteilnehmende Blicke auf Angela Merkel zu werfen: in deren Eigenschaft als Privatperson, die pünktlich nach 18 Uhr in alte Hauspantoffel schlüpft.

Lewitscharoff zählte zuverlässig zu den eigensinnigsten Köpfen, die die westdeutsche Literatur hervorgebracht hat. In ihren geschliffenen Erzählwerken entdeckte sie in der nüchtern verwalteten Welt immer wieder Spuren: Zeugnisse einer Magie, von der sich die Schulweisheit der braven, bundesdeutschen Verfassungspatrioten nichts träumen ließ.

Totenglöckchen für die Generation X

In Blumenberg (2011), einer vordem unbekannten Art des metaphysischem Campus-Romans, konfrontierte sie Hans Blumenberg, den Münsteraner Meisterphilosophen, mit der Erscheinung eines Löwen. Zu allem Überdruss läutete sie in dem Buch aber auch den Lebens- und Zukunftsentwürfen der Generation X das Totenglöckchen. Die hegemonial gebliebenen Reste der links-liberalen Mehrheitskultur entsorgte sie anmutig: Lewitscharoff-Prosa blieb bei aller Modernität, die sie etwa mit ihrer Generationskollegin Brigitte Kronauer teilte, an der sprunghaften Genialität Jean Pauls geschult, zudem an der bürgerlichen Ironie von Wilhelm Raabe.

Die Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2013 bildete die frühe Krönung einer literarischen Anstrengung, die sich gegenüber jeder zeitgeistigen Allüre sorgsam bedeckt hielt: um den Preis, mit provokanten Aussagen Anstoß zu erregen. So bezeichnete sie in vitro gezeugte Kinder aus Anlass einer Rede 2014 als "Halbwesen" – und kanzelte die vielen geharnischten Kritiker ihrer Ausführungen vorsorglich als "Tugendterroristen" ab. Kein Highlight in ihrer sonst untadeligen Künstlerinnenlaufbahn.

Sie selbst räumte später widerwillig ein, übers Ziel geschossen zu haben. Sie vertrat dabei die durchaus "etwas altertümliche Position, dass das Humanum nicht angetastet werden soll". Der eigentliche Skandal bestand denn wohl auch in Lewitscharoffs aktiver Bejahung einer tragischen Auffassung menschlichen Lebens.

Aufgeklärte Religiöse

In einer Welt ohne Furcht und Schrecken, so die aufgeklärt Religiöse, beanspruche sie kein Wohn- und Aufenthaltsrecht. Lewitscharoffs verblüffendes Credo: Eine religiöse Welt ohne Vorstellung des Bösen sei für sie eine "Horrorvorstellung". Im Ohr hatte man sofort Sibylle Lewitscharoffs Generalton: eine ans Schnoddrige grenzende schwäbische Wortgewalt, die von Hegel bis Hölderlin reichte und auf Erzähler wie Hermann Lenz hinwies.

Man muss weit in die 1970er-Jahre zurückgehen und an heute beinah vergessene Schriftstellerinnen wie Gabriele Wohmann erinnern, um Lewitscharoffs Platz in der Literaturlandschaft angemessen zu bestimmen. Als Kronzeugin der jüngsten deutschen Moderne stand sie eigentümlich quer zum Zeitgeist. Von Pong (1998) bis Das Pfingstwunder (2016) beschenkte sie die Öffentlichkeit mit verklausulierten Beiträgen zur Mentalitätsgeschichte nicht nur Deutschlands, sondern von uns allen. Jetzt ist Lewitscharoff, die Stuttgarter Arzttochter, an den Folgen einer Multiplen-Sklerose-Erkrankung 69-jährig in Berlin gestorben. (Ronald Pohl, 14.5.2023)