Die umstrittene Justizreform der Regierung Netanjahu hat beispiellose Proteste ausgelöst. Für Orly Noy, israelische Aktivistin und Chefin des Executive Board der NGO B’Tzelem in Jerusalem, sind sie auch eine verpasste Chance, in Israel grundlegende, nie zuvor erörterte Fragen zu thematisieren.

Seit Monaten wird auf den Straßen Israels demonstriert. Die Demonstrierenden werfen der Regierung vor, die unabhängige Justiz zu schwächen und die Demokratie auszuhöhlen.
Foto: AFP / Ahmad Gharabli

Die Feiern zum 75. Jahrestag der Unabhängigkeit Israels fanden unter der dunklen Wolke einer rechtsextremen Regierung, wochenlangen, beispiellosen Protesten und einer tiefen sozialen Spaltung statt. Unabhängig von der politischen, sozialen, ethnischen oder nationalen Identität kann man sagen: Dies ist nicht das Israel, das man sich zu seinem 75-jährigen Bestehen erhofft hatte.

Eine Krise kann jedoch auch eine Chance sein. Dieser dramatische Moment hätte die Gelegenheit für eine offene und ehrliche Diskussion über grundlegende, nie zuvor erörterte Fragen bieten können, die uns heute in Israel beschäftigen: die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger, unser kollektives Ethos und die Bedeutung der Definition Israels als jüdischer und demokratischer Staat.

Zur alten Ordnung

Leider wurde schon zu Beginn der Massenproteste deutlich, dass es den Demonstrierenden nicht darum geht. Ihr Hauptziel besteht darin, die Uhr zurückzudrehen in eine Zeit, in der die liberalen Rechte der jüdischen Bürgerinnen und Bürger geschützt waren und Israel sich als funktionierende Demokratie präsentieren konnte, obwohl es schon lange vor dem Justizcoup von prominenten Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International als Apartheidregime bezeichnet wurde. Die Frage, wie wir zu diesem Punkt gekommen sind, wird nicht gestellt. Es geht nur darum, die alte Ordnung wiederherzustellen.

Wenn man diese Proteste von außen betrachtet, könnte man beinahe den Eindruck gewinnen, dass ein unbekanntes Flugobjekt den "jüdischen und demokratischen" Staat auf wundersame Weise getroffen und von seinem Kurs abgebracht hat. Das ist freilich weit von der Realität entfernt. Die Wahrheit ist, dass alle Elemente, die heute im sozialen und politischen Chaos explodieren, schon seit sehr langer Zeit vorhanden sind. Der Verfall in ein Regime mit eindeutig faschistischen und antidemokratischen Komponenten war weitgehend unvermeidlich.

Widersprüchliche Haltung

Die Definition Israels als jüdischer Staat, die sich in einer diskriminierenden Politik zugunsten der jüdischen Bürgerinnen und Bürger auf Kosten der Palästinenser in allen Bereichen des öffentlichen Lebens – Enteignung von Land, Zuteilung öffentlicher Mittel, Infrastruktur, Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten – manifestierte, hat die demokratischen Merkmale des Staates schon immer infrage gestellt.

Die Situation eskalierte nach 1967, als Israel jahrzehntelang eine doppelte und widersprüchliche Haltung gegenüber den besetzten Gebieten einnahm: keine Annexion, aber auch keine Trennung. Einerseits sprach die israelische Führung von Frieden und beteiligte sich an zahlreichen Friedensprozessen, baute aber andererseits die jüdischen Siedlungen im Westjordanland in schwindelerregendem Tempo aus. Nur die jüdischen Bürgerinnen und Bürger, die kaum einen Preis für die Fortsetzung der Besatzung zahlen mussten, konnten es sich erlauben, zwischen Besatzung und Demokratie zu trennen. Denn für uns funktionierte sie wirklich als solche.

Suprematistische Politik

Was das offizielle Israel jedoch ablehnte, übernahm die religiöse Rechte mit Nachdruck. Ihr politischer Plan für die besetzten Gebiete rechtfertigt die Fortsetzung der Besatzung nicht mehr mit Sicherheitsüberlegungen, sondern mit dem Geburtsrecht des jüdischen Volkes. Gegenüber den Palästinensern – sowohl jenen, die innerhalb, als auch jenen, die außerhalb der grünen Linie (der Grenze nach dem Sechstagekrieg 1967, Anm.) leben – ist es nicht schwer, diesen Anspruch als ein Gefühl der Vorherrschaft zu interpretieren.

Aufgrund des Fehlens eines grundlegenden demokratischen Ethos und der kontinuierlichen Diskriminierung zugunsten der jüdischen Öffentlichkeit seit der Staatsgründung hat Israel nie die notwendigen Instrumente entwickelt, um das Aufkommen einer explizit suprematistischen Politik wirksam zu stoppen, die Benjamin Netanjahus politischer Überlebenswille von den Rändern ins Zentrum des politischen Geschehens rücken ließ. So ist Itamar Ben-Gvir, der wegen der Unterstützung einer terroristischen Organisation verurteilt wurde, heute eines der prominentesten Mitglieder der Regierung Netanjahu.

"Die Furcht vor diesem Szenario ist verständlich, und der Aufstand im Namen der Demokratie ist ein gesunder Instinkt."

Nun stellt die jüdische Öffentlichkeit zu ihrem Erstaunen fest, dass sich die radikal antidemokratische Agenda dieser neuen Akteure nicht nur auf die Politik gegenüber den Palästinensern beschränkt, sondern darauf abzielt, Israel in eine konservative Theokratie zu verwandeln, die auch die grundlegendsten liberalen Rechte der jüdischen Bürgerinnen und Bürger bedroht. Die Furcht vor diesem Szenario ist verständlich, und der Aufstand im Namen der Demokratie ist ein gesunder Instinkt. Aber wenn wir uns jetzt nicht fragen, was Demokratie wirklich bedeutet, wenn wir uns nicht auf ein ehrliches Gespräch über die Dynamik einlassen, die uns hierhergeführt hat, dann sind wir, selbst wenn es dem Massenprotest gelingen sollte, den Justizputsch zu stoppen oder gar ganz zu vereiteln, dazu verdammt, an genau diesen Punkt zurückzukehren.

Wenn die Anführer der Proteste diese in eine Massendemonstration des jüdischen Nationalismus verwandeln, indem sie die Straßen mit der Flagge überschwemmen, die Unabhängigkeitserklärung schwenken und zahllose Ex-Generäle auf die Bühne bringen, die den größten Teil ihres Lebens der Unterdrückung der Palästinenser gewidmet haben und nun Parolen im Namen der Demokratie rezitieren, dann schließen sie bewusst die palästinensischen Bürgerinnen und Bürger aus, die etwa 20 Prozent der israelischen Bevölkerung ausmachen und ohne die keine echte Demokratie errichtet werden kann. Dies kann nicht länger eine innerjüdische Debatte bleiben.

Vergeblicher Versuch

Im Laufe der Jahre haben die Palästinenser Israel als demokratisch für die Juden und jüdisch für die Palästinenser bezeichnet. Heute müssen wir, die jüdischen Bürgerinnen und Bürger, entscheiden, ob Israel eine Demokratie für alle oder für niemanden sein wird. Der Versuch, eine beschädigte und partielle Demokratie zu stärken – solange nur unsere Rechte geschützt sind – ist vergeblich. Man kann nur hoffen, dass wir das jetzt erkennen. Sonst werden auch noch unsere Kinder – vielleicht in einer härteren Realität – für ihre Rechte kämpfen müssen. (Orly Noy, 15.5.2023)