In einem Jahr finden in allen 27 EU-Mitgliedsländern die Europawahlen statt. Noch gibt es keinen fixen Termin – den muss das Europäische Parlament (EP) erst festlegen. Die 705 Abgeordnetensitze, die derzeit auf sieben Fraktionen aufgeteilt sind, werden bei dieser zehnten Direktwahl seit 1984 neu verteilt. Vor dem EU-Austritt der Briten 2020 standen noch 751 Mandate zur Wahl.

Ursula von der Leyen will auch nach der Europawahl 2024 den Sessel der Kommissionspräsidentin weiter fest im Griff haben.
Foto: EPA / Olivier Hoslet

Anders als beim letzten Mal kann es auch sein, dass die seit dem Brexit nur noch rund 350 Millionen Wahlberechtigten nicht wie sonst im Mai, sondern erst im Juni zu den Wahlkabinen gerufen werden.

Aber in den traditionellen Parteifamilien – Christdemokraten (EVP), Sozialdemokraten (S&D), Liberale (RE), Grüne und Konservative (ECR) – haben die strategischen Vorspiele längst begonnen, wie, mit welchen Kandidaten an der Spitze sie ins Rennen gehen werden. Definitive Entscheidungen wird es im Herbst bei Parteikongressen geben.

Vorentscheidung fällt

Bei der realpolitisch wohl wichtigsten Personalentscheidung, die indirekt mit einer Neuverteilung der Kräfte im Parlament verbunden ist, zeichnet sich aber schon jetzt eine Vorentscheidung ab: wer von 2024 bis 2029 im Chefinnensessel der Kommission Platz nehmen wird.

Nach dem Stand der Dinge wird das weiterhin Ursula von der Leyen sein, die frühere deutsche Verteidigungsministerin (CDU). Die promovierte Ärztin führt das Kollegium der 27 Kommissarskolleginnen und -kollegen seit Dezember 2019 an.

"Von der Leyen wird antreten", bestätigte ein Mitglied des EVP-Vorstandes dem Standard den Stand der Gespräche bei den Christdemokraten. Jemand, die oder der ihr den Platz streitig machen werde, zeichne sich nicht ab. Nicht mehr.

Okay auch von Scholz

Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) habe sich damit einverstanden erklärt, heißt es. Würde von der Leyen ausscheiden, käme der nächste (einfache) Kommissarsjob laut Koalitionsabkommen der Ampelregierung den Grünen zu. Berlin kann aber zufrieden sein mit einer Präsidentin aus Deutschland.

Im Frühjahr hat Manfred Weber, EVP-Fraktionschef in Straßburg und gleichzeitig Präsident der EVP-Parteienfamilie, noch die amtierende Parlamentspräsidentin Roberta Metsola, eine Christdemokratin aus Malta, ins Spiel gebracht.

Das wurde aber in weiten Teilen der Parteienfamilie als unverständlicher persönlicher Racheakt Webers verstanden. Er war 2019 Spitzenkandidat der EVP, die die Wahlen gewann. Auf Druck des liberalen französischen Präsidenten Emmanuel Macron wurde dann aber nicht er als Kommissionschef vorgeschlagen, sondern eben von der Leyen. Sie wurde im EP-Plenum gewählt.

Die Metsola-Variante ist "gestorben". CDU und CSU bereiten sich darauf vor, dass ihre Parteifreundin von der Leyen auf einer Wahlliste in Deutschland antreten kann – eine Grundvoraussetzung, um ein Mandat im EU-Parlament zu bekommen. Was noch fehlt, ist eine offene Absichtserklärung der Kommissionschefin selbst, dass sie in Brüssel weitermachen will.

Offizielle Entscheidung im Herbst

Sie werde das erst im Herbst bekanntgeben, heißt es in Kommissionskreisen. Würde sie jetzt Anspruch anmelden, wäre der Wahlkampf eröffnet, die politische Arbeit der Kommission gestört. Das wäre in Zeiten des Ukrainekriegs und der vielen Aufgaben, die es zu erledigen gelte, ungünstig.

Ein weiteres gewichtiges Argument für sie: Kontinuität auch auf globaler Ebene. Von der Leyen ist neben Macron und dem kanadischen Premier Justin Trudeau die Einzige unter den G7-Spitzen, die bereits 2019 vor der Pandemie im Amt war. Sie wäre nach Walter Hallstein, Jacques Delors und José Manuel Barroso erst die vierte Kommissionschefin, die eine zweite Amtszeit bekäme.

Wahlbefragungen zeigen, dass die EVP bei den Wahlen 2024 weiter deutlich vor den Sozialdemokraten und den Liberalen liegen würde. Deutlich dazugewinnen dürften die radikale Rechtsfraktion und auch die Linksfraktion. Wie 2019 könnte von der Leyen mit der Zustimmung der drei stärksten Fraktionen rechnen. Eine Spitzenkandidatin der Sozialdemokraten – im Gespräch ist die frühere finnische Premierministerin Sanna Marin – fände schwerer eine Mehrheit. (Thomas Mayer aus Brüssel, 15.5.2023)