Die Morgenruhe in Berlin fiel am Sonntag aus: Schon um acht Uhr kreisten und knatterten Hubschrauber über dem Regierungsviertel. Es galt Sicherheitsstufe wie für den Besuch eines US-Präsidenten. Lange hatte sich die deutsche Regierung bezüglich des Besuchs des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj äußerst bedeckt gegeben. Man war sauer auf die Berliner Polizei: Aus dieser waren nämlich Informationen über den heiklen Besuch nach draußen gedrungen.

Den Karlspreis erhielt der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj von der Stadt Aachen, vertreten durch Oberbürgermeisterin Sibylle Keupen.
Foto: AP / dpa / Federico Gambarini

Doch Sonntagnacht bestätigte Selenskyj selbst seine Landung in Berlin – es war der erste Besuch seit Beginn des Krieges. Die deutsche Luftwaffe twitterte, dass die Flugbereitschaft Selenskyj in Rom abgeholt habe und er mit zwei Eurofightern nach Berlin eskortiert worden sei.

Zunächst ging es am Sonntag zu Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, dieser empfing Selenskyj in Schloss Bellevue zu einem Arbeitsfrühstück. Die Begrüßung, wie später auch durch Scholz im Kanzleramt: herzlich, aber nicht überschwänglich.

"Danke, Deutschland"

Selenskyj trug sich mit folgenden Worten auf Englisch ins Gästebuch bei Steinmeier ein: "In der schwierigsten Zeit in der modernen Geschichte der Ukraine hat sich Deutschland als unser wahrer Freund und verlässlicher Verbündeter erwiesen, der im Kampf für die Verteidigung von Freiheit und demokratischen Werten entschieden an der Seite des ukrainischen Volkes steht. Gemeinsam werden wir gewinnen und den Frieden nach Europa zurückbringen." Auf Deutsch ergänzte er: "Danke, Deutschland."

So freundlich waren die Worte zwischen Kiew und Berlin nicht immer gewesen, Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war sogar als nicht in Kiew willkommen bezeichnet worden – wegen seiner für die Ukraine zu russlandfreundlichen Politik in seiner Zeit als sozialdemokratischer Außenminister.

Zudem hätte sich Kiew von Berlin schon zu Beginn des Krieges mehr Waffen gewünscht. Mittlerweile aber hat Deutschland geliefert – und bei seinem Besuch in Berlin bekam Selenskyj Zusagen über ein weiteres, umfassendes militärisches Hilfspaket.

Es ist das größte seit Beginn des Krieges, darin enthalten sind 18 Radhaubitzen, Kampf- und Schützenpanzer (30 Leopard 1 A5 und 20 Marder), mehr als 100 gepanzerte Gefechtsfahrzeuge und vier Luftabwehrsysteme vom Typ Iris-T.

Dank für jedes gerettete Leben

Scholz empfing Selenskyj im Hof des Bundeskanzleramtes mit militärischen Ehren und nannte den Besuch aus Kiew ein "starkes Signal". Die beiden duzten sich, und Scholz versicherte, die Solidarität der Deutschen sei "anhaltend und stark".

Der ukrainische Gast bedankte sich auch im Kanzleramt noch einmal: "Ich möchte dir, Olaf, herzlich danken. Und dem gesamten deutschen Volk für eure Hilfe, für jedes gerettete ukrainische Leben. Danke für jede Mutter, für jedes Kind, das gerettet wurde."

Deutschland hat bisher militärische Hilfe in Höhe von 17 Milliarden Euro zur Verfügung gestellt "Das ist sehr, sehr viel", sagte Selenskyj. Das deutsche Hilfspaket ist das zweitgrößte nach jenem der USA. Doch der ukrainische Präsident betonte auch: "Ich denke, wir werden daran arbeiten, dass wir Deutschland an die erste Stelle bringen."

Thema: Kampfjets

Scholz und Selenskyj sprachen auch über Kampfjets. "Wir arbeiten jetzt daran, eine Kampfjetkoalition zu schaffen. Ich denke, ich werde mich auch an die deutsche Seite wenden mit der Bitte, uns hier in dieser Koalition zu unterstützen", meinte der Präsident. Er erläuterte dazu auch: "Mein Besuch in den europäischen Hauptstädten dient unter anderem diesem Aspekt." Russland habe "ein Übergewicht" im Luftraum, dieses wolle man jedoch überwinden.

Von Scholz bekam er dafür in der Pressekonferenz aber keine fixe Zusage. Dieser meinte, dass man sich auf die bisher schon gelieferten Waffen konzentrieren werde, und betonte: "Gerade was die Luftverteidigung betrifft, sind das sehr moderne Waffen mit dem Patriot-System, mit Iris-T, was wir zur Verfügung stellen, was auch sehr wirksam ist." Die Lieferung von Kampfjets gilt in Deutschland als rote Linie.

Allerdings blieb bei Selenskyjs Bitte auch offen, ob er von Deutschland Kampfflugzeuge oder "nur" Unterstützung bei der Bildung einer solchen Koalition möchte.

Selenskyj wurde auch gefragt, ob die Ukraine Russland angreifen werde. Seine Antwort: "Wir greifen kein russisches Gebiet an. Wir haben weder Zeit noch Kraft, wir haben auch keine Waffen." Aber man bereite eine "Operation zur Befreiung der illegitim besetzten Gebiete der Ukraine" vor.

Auf die weitere Frage, wie man Frieden erreichen könne, antwortete Selenskyj, dass dieser nur auf Initiative der Ukraine zustande kommen könne.

Denn: "Der Krieg läuft auf unserem Gebiet ab. Jeder Friedensplan muss sich auf eine Initiative der Ukraine berufen." Er verwies auf den Zehn-Punkte-Friedensplan der Ukraine, der unter anderem den Rückzug Russlands auf das eigene Staatsgebiet vorsieht.

Karlspreis in Aachen

Nach dem Treffen flogen Scholz und Selenskyj nach Aachen (Nordrhein-Westfalen) zur Verleihung des Karlspreises. Diese hochangesehene Auszeichnung, benannt nach Kaiser Karl dem Großen, wird seit 1950 an Persönlichkeiten vergeben, die sich um die Einigung Europas verdient gemacht haben. Im Vorjahr ging er an die belarussischen Bürgerrechtlerinnen Swetlana Tichanowskaja, Veronika Zepkalo und Maria Kolesnikowa.

Für 2023 entschied sich die Jury für Selenskyj und das ukrainische Volk. Sie würden nicht nur die Souveränität der Ukraine verteidigen, "sondern auch Europa und die europäischen Werte". Scholz sagte in seiner Laudatio, Europa "verneigt sich tief vor dem Mut und der Entschlossenheit des ukrainischen Volkes" im Kampf um die Freiheit.

Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen pries die "unerschütterliche Standfestigkeit" Selenskyjs. Es gebe niemanden Würdigeren für den Karlspreis als die Menschen in der Ukraine und deren Präsident. Jetzt sei der Moment gekommen, für Freiheit und Demokratie aufzustehen. Die Ukraine werde den "Frieden gewinnen". Der Preisträger selbst verglich die ihm und seinem Land verliehene Auszeichnung mit einer Heimkehr nach Europa.

Rom, Berlin, Aachen, Paris

Bereits am Samstag war der ukrainische Präsident in Rom. Seine Begegnungen mit Staatspräsident Sergio Mattarella und Regierungschefin Giorgia Meloni waren geprägt von sehr entschlossen vorgetragenen Solidaritätsbekundungen. "Wir werden die Ukraine für all die Zeit unterstützen, die nötig sein wird", beteuerte Meloni. "Wir werden nicht von ‚Frieden‘ sprechen, wenn die Lage einer Invasion gleicht." Mattarella bekräftigte: "Es geht nicht nur um Unabhängigkeit und territoriale Integrität, sondern auch um die Freiheit der Völker und die internationale Ordnung."

Meloni fährt trotz internationaler Skepsis gegenüber der postfaschistischen Ministerpräsidentin einen stabilen EU-Kurs. Ihre Regierungspartner Silvio Berlusconi und Matteo Salvini – der eine ein persönlicher Freund, der andere ein Bewunderer Wladimir Putins – hält sie aus der italienischen Ukraine-Politik, soweit es eben geht, völlig heraus.

Auffallend förmlich, fast schon angespannt-frostig, verlief später die Audienz Selenskyjs bei Papst Franziskus. Der Vatikan versucht, sich als Vermittler ins Spiel zu bringen. Ein Ansatz, an dem Kiew nicht interessiert ist – übrigens auch nicht Moskau. "Bei allem Respekt für Seine Heiligkeit, wir brauchen keine Vermittler. Wir brauchen einen gerechten Frieden", richtete der ukrainische Präsident dem Pontifex aus – und nahm am Tisch Platz, noch bevor sich Franziskus hingesetzt hatte. Schlechte Manieren, eine Panne bei der Etikette oder ein gewolltes Signal der Stärke? (Birgit Baumann aus Berlin, Gianluca Wallisch, 14.5.2023)