Das Rennen um die Präsidentschaft in der Türkei geht wohl in eine Stichwahl.

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Ankara/Istanbul – Das Rennen um die Präsidentschaft in der Türkei dürfte sich erst in einer Stichwahl in zwei Wochen entscheiden. Mitglieder beider Lager räumten in der Nacht auf Montag ein, dass weder Langzeitpräsident Recep Tayyip Erdoğan noch sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu in der ersten Runde über die erforderliche Marke von 50 Prozent kommen dürften.

VIDEO: Oppositionskandidat Kemal Kılıçdaroğlu sagte nach der Auszählung fast aller Stimmen am frühen Montag, im Falle einer Stichwahl "werden wir die zweite Runde unbedingt gewinnen". Amtsinhaber Recep Tayyip Erdoğan verwies vor Anhängern in Ankara auf seine "klare Führung".
DER STANDARD

Erdoğan liegt vor seinem Rivalen, verfehlte aber die absolute Mehrheit. Die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete, er stehe nach Auszählung von knapp 97 Prozent der Stimmen bei rund 49,4 Prozent und Kılıçdaroğlu bei rund 44,9 Prozent. Der Rest entfiel auf andere Kandidaten, vor allem auf den Nationalisten Sinan Oğan. Das Lager des Herausforderers zweifelte die Zahlen noch am Wahlabend an: "Nach unseren Daten liegt Kılıçdaroğlu vorn", sagte ein ranghoher Oppositioneller.

Herausforderer ruft zu Wachsamkeit auf

Kılıçdaroğlu, der für eine Allianz aus sechs Oppositionsparteien angetreten ist, hat seine Anhängerinnen und Anhänger dazu aufgerufen, wachsam zu bleiben. "Verlasst die Urnen und die Wahlkommissionen niemals", sagte er in der Nacht auf Montag. "Wir bleiben hier, bis jede Stimme ausgezählt ist."

Zahlreiche Provinzen, in denen die Opposition traditionell stark sei, seien noch nicht ausgezählt worden, sagte Kılıçdaroğlu. "An den Urnen, an denen wir einen hohen Stimmenanteil haben, blockieren sie das System mit aufeinanderfolgenden Einsprüchen", sagte er zum Vorgehen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, deren Vorsitzender Erdoğan seit 2003 erst als Premierminister und später als Präsident das 85-Millionen-Land regiert.

Bei der gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahl in dem seit 2018 als Präsidialrepublik regierten Land zeichnete sich hingegen ein Sieg der AKP und ihrer verbündeten Parteien ab.

Erdoğan: "Wissen Endergebnis noch nicht"

Erdoğan sprach schließlich um kurz vor zwei Uhr Ortszeit (1 Uhr MESZ) in Ankara zu seinen Anhängerinnen und Anhängern, die sich vor der Zentrale der AK-Partei versammelt hatten. Man liege laut den bisher vorliegenden Ergebnissen "weit vorne", sagte der Präsident, räumte aber kurz darauf ein, dass dies noch nicht die endgültigen Resultate seien.

"Sie wollen euch zum Narren halten, wenn sie behaupten vorn zu liegen", spielte Erdoğan auf die Opposition an, die den Zahlen von Anadolu demonstrativ keinen Glauben schenkt. Er glaube an seinen Sieg in der ersten Runde, werde aber ebenso siegesgewiss in eine Stichwahl gehen, verkündete der Präsident.

Ob er sich dort der Stimmen sicher sein darf, die in der ersten Runde den Nationalisten Oğan auf Platz drei brachten, war in der Nacht auf Montag noch alles andere als sicher. Eine Wahlempfehlung wollte Oğan bei seinem Auftritt vor Anhängerinnen und Anhängern in der Nacht noch nicht abgeben.

Die Auszählung der Stimmen gehe jedenfalls bis zu einem Endergebnis weiter, sagte Erdoğan – im Inland wie im Ausland, wo dem Abstimmungsverhalten der vielen Türkinnen und Türken heuer besonders großen Augenmerk beigemessen wird.

Wahlverhalten in Österreich

Unter den etwa 110.000 Wahlberechtigten in Österreich zeichnete sich – wie auch schon 2018 – am Sonntagabend ein Sieg des Langzeitpräsidenten ab. Bei einem Auszählungsgrad von 16,6 Prozent hielt Erdoğan bei knapp 74 Prozent, Kılıçdaroğlu kam auf 24,3 Prozent.

Präsident Erdoğan zeigte sich noch am Sonntagabend seinen Anhängerinnen und Anhängern.
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In der Türkei selbst hat Erdoğans Popularität zuletzt aber gelitten, unter anderem wegen der hohen Inflation, die die Lebenshaltung für viele Menschen drastisch verteuert; wegen einer nur langsamen Reaktion auf das verheerende Erdbeben im Südosten der Türkei mit mehr als 50.000 Toten; und wegen seines repressiven Umgangs mit Kritikerinnen und Kritikern. Erdoğan hat die meisten türkischen Institutionen fest im Griff und liberale Persönlichkeiten sowie Kritiker weitgehend ins Abseits gestellt.

Herausforderer verspricht Westkurs

Kılıçdaroğlu hat hingegen zugesagt, die Türkei auf einen neuen Kurs zu bringen, indem er nach Jahren staatlicher Unterdrückung die Demokratie wiederbeleben, zu einer klaren Wirtschaftspolitik zurückkehren und die brüchigen Beziehungen zum Westen wieder aufbauen wolle. Sollte er gewinnen, könnten tausende politische Gefangene freikommen.

Der 74-Jährige hatte 2017 aus Protest gegen die repressive Politik Erdoğans und die Verhaftung eines oppositionellen Abgeordneten den "Marsch für Gerechtigkeit" initiiert. Zusammen mit vielen Anhängern war er dabei 450 Kilometer von Ankara nach Istanbul zu Fuß gelaufen. Seine angestrebte Reise bis in den Präsidentenpalast dürfte nun aber zumindest um zwei Wochen länger dauern – auf jeden Fall bis zur Stichwahl am 28. Mai. (Florian Niederndorfer, Reuters, 15.5.2023)