In der Türkei muss Präsident Recep Tayyip Erdoğan in einen zweiten Wahldurchgang. Würden nur jene Türkinnen und Türken entscheiden, die in Österreich zur Wahl gingen, wäre die Sache schon klarer. Denn sie haben mit großer Mehrheit für den Amtsinhaber gestimmt. Dieses Resultat ließ sich aus den – noch unvollständigen – Zahlen herauslesen, die die staatliche Agentur Anadolu am Montag vermeldete.

Bekannt waren zu dem Zeitpunkt die Ergebnisse aus bereits geöffneten Wahlurnen – also von einem Großteil aller Stimmen. Demnach lag Amtsinhaber Erdoğan bei rund 72 Prozent. Erneut. Damit entspräche das Ergebnis, sollte es sich bestätigen, jenem von der letzten Wahl 2018. Damals war Erdoğan auf 72 Prozent aller in Österreich abgegebenen Stimmen gekommen. Der Präsident, der seit 20 Jahren an der Macht ist, schneidet hierzulande nicht nur besser ab als in der Türkei selbst.

Erdoğan erreichte in Österreich einmal mehr einen Erdrutschsieg.
Foto: Reuters/ Hannah Mckay

Auch im EU-Vergleich ist seine Bastion in Österreich besonders stark: Nur in Belgien und den Niederlanden ist sie vergleichbar hoch. In Deutschland konnte Erdoğan laut vorläufigen Zahlen erneut rund 65 Prozent auf sich vereinen. Auf große Mehrheiten stützt er sich demnach auch in Nordafrika oder im Nahen Osten. In Nord- und Lateinamerika, Russland oder Indien hingegen gewinnt sein Herausforderer Kemal Kılıçdaroğlu, Chef der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP, das Rennen.

Was macht den türkischen Präsidenten in Österreich so erfolgreich? Zunächst einmal lohnt sich ein Blick auf die Wahlbeteiligung: Diese fiel in Österreich vergleichsweise gering aus: 49 Prozent der hier lebenden Türkinnen und Türken gaben vor fünf Jahren ihre Stimme ab. Dieses Mal waren es Anadolu-Angaben zufolge 54 Prozent. Der türkische Botschafter Ozan Ceyhun schätzt die Beteiligung im STANDARD-Gespräch auf 56 Prozent.

Wer vorwiegend wählen geht

Zu bedenken ist, dass vor allem jene zur Wahl gingen, die der Auszählung vertrauen, die sich also generell dem türkischen Staat nahe fühlen – was auf jenen Teil, der nicht abstimmte, weniger zutrifft. Weil sich schon im Vorfeld der türkischen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen ein knappes Rennen abgezeichnet hatte, wurde verstärkt um die potenzielle Anhängerschaft der regierenden AKP gebuhlt. Rund drei Millionen Auslandtürkinnen und -türken sind in Europa wahlberechtigt, davon über eine Million in Deutschland. In Österreich sind es 108.000. Die gesamte türkische Community besteht aus mehr Menschen: An die 300.000 seien es, von denen die Mehrheit nicht die türkische, sondern die österreichische Staatsbürgerschaft besitze, schätzt man in der türkischen Botschaft. Sechs Lokale hatten diesmal zwischen Wien und Bregenz für die Türkei-Wahl geöffnet – drei mehr als 2018.

52 %
der Austrotürken haben höchstens einen Abschluss in einer Pflichtschule gemacht. (Quelle)

Im April machte der türkische Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu im Zuge eines offiziellen Besuchs in Wien bei einem Fest zum Fastenbrechen Halt. Via Anruf war Präsident Erdoğan zugeschaltet. Die Sympathien für den türkischen Präsidenten erklärt der Politologe Cengiz Günay mit dem Ergebnis in jenen Teilen der Türkei, aus denen viele stammen. In Österreich sind das vor allem ländliche Regionen in Zentral- und Ostanatolien, wo die AKP traditionell gut abschneidet.

17,8 %
der türkischen Expats hatten laut Integrationsbericht 2022 keinen Job (Frauen: 53 %). (Quelle)

Und der Türkei-Experte sagt, dass sich türkischstämmige Menschen in Österreich einem "Anti-Migrations-, Anti-Islam- und Anti-Türkei-Diskurs ausgesetzt fühlen", der sie empfänglicher mache für die Rhetorik Erdoğans, der sich stets als "Fürsprecher der Auslandstürken" präsentiere.

70 %
aller aus der Türkei Zugewanderten fühlen sich Österreich zugehörig. (Quelle)

Während die Türkei etwa einen gut funktionierenden bürgernahen staatlichen Service anbiete, könne es in Österreich Monate dauern, um eine Aufenthaltsgenehmigung zu erhalten, sagt Günay: "Das frustriert viele." Auch der Soziologe Kenan Güngör befindet: Selbst in der dritten Generation hätten Türkischstämmige nach wie vor das Gefühl, "bestenfalls geduldet zu sein".

Durch Erdoğan würden sie besonders in Wahlkämpfen einen ganz anderen Selbstwert und Stolz erfahren. Sie würden so zu einem Teil einer Erzählung, die sich um eine große Nation mit starkem Anführer drehe. Auf diese setzte auch die Regierungspropaganda in türkischen Medien, die auch hierzulande konsumiert werde. "Das strahlt auf die Community aus", sagt Islamexperte Güngör. Auch der Bildungsgrad spiele eine Rolle: Je gebildeter, sagt Güngör, desto eher tendierten Wählerinnen und Wähler zu Erdoğans Widersacher Kılıçdaroğlu. (Manuel Escher, Anna Giulia Fink, Jan Michael Marchart, 15.5.2023)