Am Montag präsentierten mehrere NGOs einen Timer, der festhält, wie lange schon das größte Gericht Österreichs ohne Leitung ist. Im Bild von links: Lukas Gahleitern-Gertz (Asylkoordination), Daniel Lohninger (Epicenter Works), Gregor Schamschula (Ökobüro) und Nicole Pinter (Amnesty International).

Foto: DER STANDARD / lalo

Wien/Innsbruck – Seit mehr als 165 Tagen ist das weitaus größte Gericht Österreichs ohne ordnungsgemäße Führung. Der Ball liegt bei der Bundesregierung: Sie weigert sich, die Nachbesetzung für den Präsidenten des Bundesverwaltungsgerichts (BVwG) vorzunehmen. Mehrere NGOs haben sich am Montag bei einer Pressekonferenz zu Wort gemeldet und forderten ein Ende der "politischen Spielereien" bei Entscheidungen in der Justiz.

Auch Bundespräsident Alexander Van der Bellen meldete sich am Montag erstmals zu Wort und drängt die Regierung zu einer raschen Entscheidung: Alle Voraussetzungen für eine "rasche Besetzung" seien gegeben, teilte die Präsidentschaftskanzlei den "Vorarlberger Nachrichten" mit. Die jetzige Situation schade "dem Ansehen dieses wichtigen Amtes und trägt nicht zur Stärkung des Vertrauens in zentrale Institutionen in unserem Land bei".

Der Hintergrund: Die Postenbesetzung am BVwG, die laut dem "Sideletter" der Regierung der ÖVP zustehen soll, dürfte mit einer weiteren Personalentscheidung gekoppelt sein. Auch bei der Bundeswettbewerbsbehörde (BWB) steht die Neubesetzung der Leitungsfunktion aus, DER STANDARD berichtete. Vertreter von Amnesty International, Epicenter Works, Ökobüro und Asylkoordination vermuten "Postenschieberei". Es gebe keine sachliche Begründung, warum auf einer interimistischen Besetzung beharrt werden sollte, sagte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination.

Gerichtsreformen auf Pause

Das BVwG fungiert als das zentrale Kontrollorgan der österreichischen Verwaltung mit rund 220 Richterinnen und Richtern. Sie verhandeln tausende Verfahren betreffend Menschenrechte oder im Asyl-, Daten- und Umweltbereich. Die Gerichtsleitung ist für personelle und organisatorische Fragen innerhalb des Gerichts verantwortlich.

Zu tun gäbe es genug: Erst im Februar hat der Rechnungshof eine Reihe an Empfehlungen gegeben, die auch die innere Organisation des BVwG betreffen. Der Unmut in der Richterschaft ist deshalb auch dementsprechend groß. Erst vergangene Woche äußerte sich die Standesvertretung der Verwaltungsrichterinnen: Die ausstehende Ernennung weise darauf hin, dass "zumindest der Anschein der politischen Einflussnahme gegeben ist", hieß es in einer Stellungnahme.

"Rechtsstaatlich wirklich bedenklich"

Auch die Vereinigung aller österreichischen Richterinnen und Richter kritisiert, dass die Vorgänge "sehr nahe am Eingriff in die unabhängige Justiz" stünden. Als "rechtsstaatlich wirklich bedenklich" bezeichnet der stellvertretende Präsident Gernot Kanduth die derzeitige Situation im STANDARD-Gespräch. Aus dem BVwG heißt es offiziell, dass "die Aufgabenerfüllung des BVwG als unabhängige Rechtsschutzinstanz auch während der Vakanz des Amtes des Präsidenten sichergestellt" sei.

Gahleitner-Gertz sprach am Montag dennoch von einer "Unruhe am Gericht" aufgrund der aktuellen Situation. Die Nichternennung sei respektlos gegenüber der Richterschaft, aber auch gegenüber den Bewerberinnen und Bewerbern sowie gegenüber der Besetzungskommission.

Eigentlich ist der Besetzungsvorgang gesetzlich klar geregelt: Eine Kommission bestehend aus den Präsidenten der Höchstgerichte und aus Vertretern der Ministerien und der Wissenschaft übergab ihren Besetzungsvorschlag an die Bundesregierung. Laut Grünen warte man seit Wochen auf eine "positive Rückmeldung" der ÖVP.

Kritik an Besetzung in Innsbruck

Mehr Spielraum hatte die Tiroler Landesregierung bei der Nachbesetzung des Präsidenten am Innsbrucker Landesverwaltungsgericht (LVwG). Sie setzte den ehemaligen Landesbeamten Klaus Wallnöfer an die Spitze des Gerichts. Für Unverständnis sorgt hier der Bestellvorgang.

Schon vor dem Hearing habe man "den Boden gut bereitet", es sei "von vornherein klar gewesen, wer er wird", sagen kritische Stimmen. In einem Artikel der "Tiroler Tageszeitung" wurde Wallnöfer schon am 5. Februar – noch bevor das Hearing überhaupt begonnen hatte – als "heiße Aktie" für die Nachfolge des scheidenden Präsidenten Christoph Purtscher bezeichnet.

Vom Kontrollierten zum Kontrolleur

Unter den sieben Bewerberinnen und Bewerbern waren sechs Richterinnen und Richter des Landesverwaltungsgerichts, darunter drei Frauen. Und ein externer Bewerber: Wallnöfer. Der Einzige ohne richterliche Erfahrung. Er kommt aus der Verwaltung, also jenem Bereich, den das LVwG kontrollieren soll.

Wallnöfer wurde so vom Kontrollierten zum Kontrolleur: Als Leiter der Abteilung Landwirtschaftsrecht war er für einige Abschussbescheide für Wölfe zuständig. Ebenjene Bescheide wurden stets vom LVwG aufgehoben.

Geheime Kommission

Wer in der Kommission saß, die sich für Wallnöfer aussprach, bleibt nach wie vor geheim. Fünf der neun Kommissionsmitglieder waren selbst Landesbeamte, wie DER STANDARD erfuhr. Auffällig ist auch: Nach dem Hearing aller Kandidatinnen und Kandidaten unterbreitete die Kommission der Regierung einen Vorschlag ohne Reihung. Landeshauptmann Anton Mattle (ÖVP) verteidigte die Entscheidung für Wallnöfer dann aber, indem er argumentierte, dass die Wahl auf den "besten" Kandidaten gefallen war.

Die Causa erreichte auch den Tiroler Landtag: Die Liste Fritz sagte etwa, dass ein "passender ÖVP-Mann" gefunden worden sei. In der Auswahl wären auch drei langjährige Richterinnen gewesen. FPÖ-Landesparteiobmann Markus Abwerzger sprach von einer "klaren politische Besetzung". Neos-Klubobmann Dominik Oberhofer erinnerte an den versprochenen "neuen Stil". Stattdessen fühle er sich in die schwarz-rote Postenschachervergangenheit zurückversetzt. Der Klubobmann der Grünen, Gebi Mair, bezichtigte die ÖVP, "sekundiert von der SPÖ-Riege" eine "Gesetzeslücke" ausgenützt zu haben, nämlich die Tatsache, dass es keiner richterlichen Erfahrung bedarf, um Präsident des LVwG zu werden.

Meinungsverschiedenheiten in Regierung

Der stellvertretende Landeshauptmann Georg Dornauer (SPÖ) gab der Opposition recht und forderte "neue Verfahren" für zukünftige Besetzungen. Die Unabhängigkeit der Justiz müsse gewahrt bleiben. Das habe er auch "in der Regierung deponiert". Im Gegensatz zu Mattle sprach Dornauer vor den Mandatarinnen und Mandataren von zwei "ganz gleich gut qualifizierten Bewerbern".

Anders Landeshauptmann Mattle: Er verteidigte Wallnöfer und sieht durch die Entscheidung den Beweis für eine funktionierende Gewaltenteilung. Trotz der Meinungsverschiedenheit stimmte die Regierung für die Ernennung Wallnöfers. Ob damit das letzte Wort gesagt ist, wird sich erst zeigen: Zwei Kandidaten beeinspruchten das Auswahlverfahren. (Laurin Lorenz, Maria Retter, 15.5.2023)