Vorbei sind die Zeiten, als sich vor den Rekrutierungsbüros in der Ukraine lange Schlangen bildeten, mit Männern und Frauen, die sich freiwillig für die Front meldeten. Der Andrang war damals so groß, dass viele Freiwillige mit den Worten "Wir melden uns, sollten wir euch brauchen" wieder nach Hause geschickt wurden. Seitdem ist viel Zeit vergangen, und mehr als ein Jahr nachdem Russland die Ukraine überfallen hat, fehlen der Ukraine genügend gut ausgebildete Soldaten, um jenen, die seit Beginn des Krieges an der Front kämpfen, eine angemessene Pause zu verschaffen.

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DER STANDARD

"Diejenigen, die in die Armee eintreten wollten, gingen zu Beginn des Krieges, und wir sind stolz auf diese Leute – zehntausende Menschen waren das damals", erklärt Oleksiy Gontscharenko, Parlamentsabgeordneter der Partei Europäische Solidarität von Petro Poroschenko. Aber mittlerweile befinde sich das Land in einer anderen Situation. "Manche wollen kämpfen, andere nicht. Und obwohl wir derzeit keinen Mangel an Soldaten haben, wissen wir nicht, wie der Krieg weitergeht und ob sich das über die nächsten Monate ändert."

Herausforderungen bei der Mobilisierung

Zwar hält die Ukraine die Zahl ihrer laufenden Opfer geheim, doch laut US-Geheimdienstdokumenten, die vor kurzem geleakt wurden, gab es auf beiden Seiten massive Verluste. Bis zu 354.000 russische und ukrainische Soldaten sollen im Ukrainekrieg getötet oder verletzt worden sein. Davon zwischen 120.000 bis 130.000 in der Ukraine. In Anbetracht der Tatsache, dass Russland über ein größeres Militär verfügt und etwa mehr Einwohner, also auch mehr Wehrpflichtige hat, steht die Ukraine derzeit vor mehreren Herausforderungen, so Gontscharenko.

Bereits einen Monat vor Kriegsbeginn fanden erste Übungen für Freiwillige statt.
Foto: AP Photo/Efrem Lukatsky

"Die Ausbildung der Soldaten ist ein wichtiger Punkt. Zwar werden viele unserer Soldaten mittlerweile auch in Europa trainiert, aber die Organisation dieses Prozesses ist eine große Aufgabe", so der Parlamentarier. Und weiter: "Manche Männer versuchen einer Mobilisierung zu entgehen. Deshalb gibt es auch noch einen Unterschied in der 'Qualität' der Soldaten: Die Motivation bei jenen, die sich freiwillig gemeldet haben, ist natürlich höher."

Mehr als 100.000 Abonnenten hat eine der Gruppen auf Telegram, in der sich Nutzer darüber auf dem Laufenden halten, wo in der Hauptstadt Kontrollen stattfinden und Männern Einberufungsbescheide ausgehändigt werden. Videos und Fotos, oft vom Küchenfenster aus aufgenommen, zeigen, wie Beamte Passanten aufhalten. Erst vor kurzem gelang es dem ukrainischen Inlandsgeheimdienst (SBU) 26 solcher Telegram-Kanäle zu blockieren, die Männern dabei helfen, einer Mobilisierung zu entgehen. Manche der Administratoren wurden laut SBU inhaftiert.

Die Zahl der Verletzten und Toten ist hoch – auf russischer Seite geleakten Dokumenten zufolge sogar noch höher. Im Bild ein verwundeter Ukrainer in Mariupol.
Foto: IMAGO/Cover-Images

"Die Menschen wissen nicht über ihre Rechte Bescheid"

"An sich ist es nicht illegal, solche Kanäle zu betreiben", erklärt Andrii Nowak, Anwalt für Militärrecht. "Allerdings muss man verstehen, dass diese offenen Kanäle auch von russischen Trollen genutzt werden und sie für den Staat ein Sicherheitsrisiko darstellen." Immer wieder berät Nowak Männer, die Fragen zur Einberufung und zum Ablauf haben, oder ganz allgemein wissen wollen, ob der auf der Straße ausgehändigte Einberufungsbefehl überhaupt gültig ist. "Das größte Problem ist, dass die Menschen nicht über ihre Rechte Bescheid wissen. Gerade im Bereich der Mobilisierung ist das der Fall", so der Anwalt. Seit Kriegsbeginn zählt er gut 600 Konsultationen.

Ukrainische Rekruten werden in Großbritannien ausgebildet.
Foto: REUTERS/Peter Nicholls

"In der Einberufungsordnung steht geschrieben, dass die Beamten der Person einen vorab ausgefüllten und ausgefertigten Vorladungsentwurf persönlich zustellen müssen, zum Beispiel nach Hause oder in die Arbeit", erklärt der Anwalt. Laut ihm gibt es in Kiew relativ wenige Vorfälle, bei denen sich Beamte illegal verhalten. Im Westen des Landes oder in der Region Odessa sehe die Situation dagegen anders aus. "Die Tatsache, dass die Beamten auf der Straße selbstständig und nach eigenem Ermessen Vorladungen verfassen, formulieren und ausfüllen, stellt eine Überschreitung der behördlichen Befugnisse dar, das heißt, sie übernehmen die Autorität des Leiters des Rekrutierungszentrums. Denn es gibt verschiedene Gründe, warum manche Männer von der Einberufung ausgenommen sind."

Kein Verlassen der Armee

Zwar können sich viele Männer im Land derzeit nicht sicher sein, ob sie in den kommenden Monaten einberufen werden. Doch für Parlamentarier Oleksiy Gontscharenko stellt sich derzeit noch ein anderes Problem: "Laut Gesetz kann man in die Armee eintreten, aber sie nicht verlassen." Vor kurzem hat er dem Parlament einen Gesetzesentwurf vorgelegt, der die Demobilisierung von Soldaten ermöglicht, die während des Krieges 18 Monate lang gedient haben. "Ich möchte, dass die, die kämpfen, wissen, dass sie eine Perspektive haben und dass sie ein Licht am Ende des Tunnels sehen. Viele sind bereit, bis zum Sieg zu kämpfen, aber andere sind erschöpft haben ihren Job gemacht, und jetzt ist es an der Zeit, dass andere übernehmen", so Gontscharenko.

Viele ukrainische Soldaten sind nach fast 14 Monaten Krieg müde.
Foto: AP/Efrem Lukatsky

Er schlägt vor, dass diejenigen, die nach 18 Monaten an der Front zurückkehren, fünf Jahre lang von einer erneuten Mobilisierung ausgenommen sein sollen. "Die Wahrheit ist, dass niemand weiß, wie lange dieser Krieg dauern wird und ob es der letzte Krieg ist, den dieses Land erleben wird. Deshalb müssen wir uns um diese Menschen kümmern. Vielleicht brauchen wir sie in der Zukunft wieder." Der Gesetzesentwurf liegt derzeit noch in der Schublade. Immerhin, so Gontscharenko, wurde er noch nicht abgelehnt. (Daniela Prugger aus Kiew, 17.5.2023)