In seinem Gastkommentar erklärt IHS-Chef Klaus Neusser die Unterschiede zwischen der Schweiz und Österreich. Eine Herausforderung werde die kommende Herbstlohnrunde.

Hierzulande bleibt die Teuerung hoch, mehr Transparenz soll die Lebensmittelpreise drücken. Aber reicht das?
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Die im April gegenüber dem März von 9,1 auf 9,8 Prozent gestiegene Inflationsrate hat die Diskussion und die Polemik in Österreich neuerlich stark entfacht. Dabei verstellen die Fixierung auf einen einzelnen Monatswert und die aufkommende Hektik die Sicht auf die längerfristigen makroökonomischen Entwicklungen. Es empfiehlt sich daher, einen Schritt zurückzutreten und die Ursachen und wirtschaftspolitischen Möglichkeiten neu zu betrachten.

Die Inflation lässt sich auf zwei Faktoren zurückführen. Erstens hat die Abfolge globaler Krisen, beginnend mit Lieferengpässen, gefolgt von der Corona-Pandemie und dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und der damit verbundenen Explosion der Energiepreise, den langfristigen Wachstumspfad um etwa vier Prozent nach unten verschoben. Das Wifo beziffert diese Reduktion mit 8.600 Euro für jede Österreicherin und jeden Österreicher, kumuliert auf fünf Jahre.

"Befeuert wurde dies auch durch eine expansive Fiskalpolitik, die versucht, die realen Haushaltseinkommen von der Inflation weitestgehend zu immunisieren."

Zweitens trifft dieser massive negative Angebotsschock auf eine stark expansive Nachfrage, hervorgerufen durch einen rasanten Aufholprozess nach der Pandemie. So ist das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) in den Jahren 2021 bis 2022 kumuliert um fast zehn Prozent gewachsen, ein auch im europäischen Vergleich außerordentlich hoher Wert. Befeuert wurde dies auch durch eine expansive Fiskalpolitik, die versucht, die realen Haushaltseinkommen von der Inflation weitestgehend zu immunisieren. So hat Österreich nach Griechenland mit fünf Prozent des BIPs die höchsten Ausgaben getätigt.

Diese beiden Faktoren haben zu einem, auch für Wirtschaftsforscher, in diesem Ausmaß überraschenden Anstieg der Inflation gemessen am Verbraucherpreisindex (VPI) geführt. Zumal die Europäische Zentralbank (EZB) auf diese Entwicklung viel zu spät und zu zögerlich mit einer Leitzinserhöhung reagiert hat.

"Hochpreisinsel" Schweiz

Diese Entwicklung ist mehr oder minder stark ausgeprägt in allen europäischen Ländern zu beobachten. Trotzdem gibt es erhebliche Unterschiede. Ein Land, das auffallend niedrige Inflationsraten hat, auch im historischen Vergleich, ist die Schweiz. Dort betrug die Inflationsrate auf Basis des harmonisierten Preisindex (HVPI) im April 2,6 Prozent gegenüber 9,6 Prozent in Österreich und 7,0 im Euroraum.

Vorneweg: Die Schweiz ist eine "Hochpreisinsel". Das Preisniveau liegt in vielen Bereichen deutlich über jenem von Österreich. Dies kann als ein Indiz für die mangelnde Wettbewerbsintensität auf den Inlandsmärkten aufgefasst werden. In dieser Beziehung ist die Schweiz mit ähnlichen Problemen wie Österreich konfrontiert.

Die Schweiz weist gegenüber den Ländern der EU mehrere Besonderheiten auf. Erstens liegt der Anteil staatlich festgelegter Preise gemessen am HVPI bei 30 Prozent und damit weit über dem EU-Durchschnitt von 13 Prozent. Unterschieden werden direkt administrierte Preise (Gas, Elektrizität, Fernwärme, öffentlicher Verkehr) und teilweise administrierte Preise (Gesundheitsbereich, Versicherungen). Somit sind nur etwa 70 Prozent der Positionen im HVPI dem uneingeschränkten Spiel von Angebot und Nachfrage ausgesetzt. Gesundheitsdienstleistungen werden in der Schweiz zum großen Teil privat getragen. So beträgt das HVPI-Gewicht dieser Position 19 Prozent, während es in Österreich, wie im EU-Durchschnitt, bei etwas über fünf Prozent liegt.

Autonome Geldpolitik

Eine weitere Besonderheit stellt die autonome Geldpolitik der Schweizerischen Nationalbank (SNB) dar. Diese ist traditionell viel stärker als in den USA und im Euroraum auf Preisstabilität ausgerichtet – angepeilt wird ein Inflationsziel von unter zwei Prozent –, was auch den Franken über die Jahre massiv aufgewertet hat. Diese Politik hat einerseits die importierte Inflation stark gedämpft, andererseits aber die Exportwirtschaft stark unter Druck gesetzt. Ausgeglichen wird dies durch hohe Produktivitätsgewinne in der Exportwirtschaft und durch einen liberalen Arbeitsmarkt, wobei die kontrollierte Zuwanderung ein wichtiges Element ist.

Somit stellt sich die Frage, was kann Österreich von der Schweiz lernen? Eigentlich nicht viel, zumal eines der wichtigsten makroökonomischen Instrumente von der EZB gesteuert wird. Zwar kann Österreich dort seinen Einfluss zusammen mit anderen Ländern mit ähnlich gelagerten Interessen geltend machen, doch hat der bisherige Verlauf gezeigt, dass dieser gering ist.

Lasten verteilen

Bleibt die Frage, was kann Österreich überhaupt tun? Ich fürchte, die nüchterne Antwort ist: kurzfristig wenig. Es gilt anzuerkennen, dass die multiplen Krisen, die weder von Österreich verursacht worden sind noch unter seiner Kontrolle stehen, realwirtschaftlich ihren Tribut fordern. Somit geht es im Wesentlichen darum, wie die Lasten verteilt werden. Wenn man einmal die sozialpolitischen Aspekte außer Streit stellt und von populistischen Maßnahmen, die dem ökonomischen Sachverstand entgegenstehen, wie etwa einer temporären Aussetzung der Mehrwertsteuer auf Lebensmittel, absieht, so sind zwei Faktoren entscheidend.

"Eine ausschließlich an den vergangenen Inflationsraten ausgerichtete Politik wäre kurzsichtig."

Zum einen braucht es für die nächste Herbstlohnrunde eine koordinierte, konsensuale Strategie, die auch die Regierung einbindet, um eine Preis-Lohn-Spirale zu verhindern. Die Teuerungsprämie war ein solcher Versuch. Eine ausschließlich an den vergangenen Inflationsraten ausgerichtete Politik, die nicht die Möglichkeit einer zukünftigen Rezession einbezieht, wäre kurzsichtig. Schließlich bestimmen die Lohnabschlüsse von heute die Lohnkosten von morgen.

Es stimmt, dass der Arbeitsmarkt momentan durch einen Mangel an Arbeitskräften – nicht nur Fachkräften – gekennzeichnet ist, doch würden eine entschlossene Antiinflationspolitik seitens der EZB mit deutlich höheren Realzinsen und eine konsequente zurückhaltende Fiskalpolitik rasch in eine Situation mit hohen Arbeitslosen- und Inflationsraten umschlagen. Zum anderen müssen schnell verstärkt angebotswirksame Maßnahmen (Mobilisierung des Arbeitskräftepotenzials, eine Pensionsreform, Ausbildung) auf den Weg gebracht werden. Beide Faktoren werden entscheiden, ob es Österreich gelingt, ähnlich wie in den 1970er-Jahren, die Krisen gut zu meistern. (Klaus Neusser, 17.5.2023)