Das Zusammenleben mit Tieren erscheint der Dorfbewohnerin Janina (Kathryn Hunter, Mitte) in Olga Tokarczuks Roman "Gesang der Fledermäuse" genauso bedeutsam wie der Umgang mit Menschen.

Marc Brenner

Leitet seit 40 Jahren das Theater Complicité: Simon McBurney.

Jorri Kristjansson

Wenn sich der britische Theaterregisseur Simon McBurney künstlerisch zu den "Scharlatanen, Lügnern, Aasfressern und Nachtschwärmern" zählt, wie er es in einem Interview einmal tat, dann ist das nicht wörtlich zu verstehen. McBurney ist künstlerisch zweifelsfrei redlich und hat als Person, die Beruf und Leben untrennbar in sich vereint, nicht zuletzt dreier minderjähriger Kinder wegen auch einen verträglichen Ernährungs- und Ruheplan. Nach vierzig Jahren im Freie-Theater-Geschäft wird man wohl einmal barock werden dürfen.

Wiener Festwochen

Hogwarts und Hollywood

1983 hat der Schauspieler und Regisseur mit drei Kolleginnen und Kollegen die Gruppe Complicité gegründet. Deren französischer Touch verdankt sich der Studienzeit an der Lecoq-Schule in Paris. Bis heute zieht McBurney, vielfach ausgezeichnet und von Hollywood bis Hogwarts bekannt (er spielte in Harry Potter, aber auch in Mission: Impossible), den Thespiskarren dieses Tourneetheaters über den Globus. Auch im deutschen Sprachraum verteidigt die Gruppe bis heute ihren guten Ruf, viele Male auch bei den Wiener Festwochen.

Complicité-Arbeiten wirken aus der scheinbaren Einfachheit ihrer präzise eingesetzten Mittel heraus. Dabei entstehen jedes Mal aufs Neue Imaginationsräume, die vor allem aus Soundgestaltung und Bildprojektionen erwachsen und die schon früh einen Hang zum Immersiven aufwiesen. Bis herauf zum bisher letzten Festwochen-Auftritt The Encounters 2016, einer musikalischen Reise in den Dschungel.

Die Knochen der Toten

Wie sehr Werke von Complicité in Großbritannien Kultstatus genießen, bewies unlängst ein Abend des aktuell tourenden und ab 22. Mai bei den Wiener Festwochen im Theater Akzent zu sehenden Stücks Drive Your Plow Over the Bones of the Dead in Manchester, als sich der gesamte Saal glückselig vereint zu Standing Ovations erhob.

Leitet seit 40 Jahren die von ihm mitbegründete Theatergruppe Complicité: Simon McBurney.

Der entschlossene Applaus galt nicht zuletzt der Hauptdarstellerin Kathryn Hunter, die jene eigenbrötlerische Dorfbewohnerin aus Olga Tokarczuks Roman (in der deutschen Ausgabe Gesang der Fledermäuse) verkörpert, aus deren Perspektive die rätselhaften Morde im winterlichen niederschlesischen Waldgebiet erzählt werden.

Der deutsche Fledermäuse-Titel verkennt etwas die Höllenbezüge zu dem im Buch viel erwähnten Dichter und Naturmystiker William Blake, wörtlich übersetzt heißt Drive Your Plow Over the Bones of the Dead etwa "Lenke deinen Pflug über die Knochen der Toten". Und Janina, die Einsiedlerin, beschäftigt sich intensiv mit den aufgefundenen Toten, nicht nur den menschlichen, auch den Tieren, die im Umfeld ihres Hauses vermutlich zu Opfern der Jagd wurden.

Astrologie weist den Weg

Entsprechend düster ist der Bühnenkosmos. Aus einer in märchenhafte Finsternis getauchten Welt leuchten rote Augen, Schauspieler mit Tierköpfen oder Hirschgeweihen treten auf Kommando hervor, dazwischen erscheinen auf Gazespannwänden mystische Weisheiten oder astrologische Zeichentabellen, anhand derer Janina sich die Welt erklärt. Auf den vielschichtig projizierten Flächen dieses Bühnenbildes schichtet McBurney Gedanken und Zeiten übereinander, ein einfacher Trick, der gekonnt viel Wirkung erzeugt.

Orte, die Janina auf ihren Ermittlungszügen durch die Gegend aufsucht, etwa das Polizeikommissariat oder die Kirche, erscheinen wie Räume aus entrückten Träumen oder wie verbildlichte eigene Gedanken, denen man nicht ganz trauen möchte. Im Zwielicht dieser schwer fassbaren Realität erscheinen die weiteren neun Darstellenden lediglich als Janinas Kopfgeburten.

Der knapp dreistündige Abend verlöre nicht viel, liefe er kürzer ab. Doch entwickelt die ausgedehnte Dauer mit ihren Durchhängermomenten eine Gravität und einen Sog, der einem Werk gebührt, das im Original über dreihundert Seiten umfasst. Energie zieht der Abend auch aus der Musik von Richard Skelton beziehungsweise dem Sounddesign, das Wind- und Tiergeräusche oder Glockengeläute subtil einschleust und das typisch für die hörspielhafte Ästhetik von Complicité ist.

Erzähltheater

In der Kategorie Erzähltheater hat die Truppe eine unverkennbare Handschrift entwickelt und über die Jahre auch bevorzugt zu Prosawerken gegriffen. In The Noise of Time ging es um die Biografie von Schostakowitsch, bei A Disappearing Number um das Mathematikgenie Srinivasa Ramanujan, Master and Margarita oder Stefan Zweigs Ungeduld des Herzens folgten – bis auf Letzteres waren alle bei den Festwochen zu sehen.

Schon die Aufführung in Manchester hatte dank des Spielortes Festivalcharakter, da der Theater- und Galeriekomplex The Lowry mehrere Publika zusammenführt. Es gibt nachher einiges zu reden, birgt Drive Your Plow doch nicht nur einen Krimi, sondern zivilisatorische Grundfragen und viel Witz. (Margarete Affenzeller aus Manchester, 17.5.2023)