Die auf Lesbos festgenommenen Flüchtlinge werden aus einem Schnellboot auf ein Schiff der griechschen Küstenwache gebracht, das sie in der Folge aufs offene Meer bringt und in einem Life Boat aussetzt.

Foto: 2023 The New York Times / Fayad Mulla

Vermummte, die auf griechischen Inseln Asylsuchende festnehmen und diese in aufblasbaren Rettungsinseln auf dem Meer aussetzen, um sie so zurück in die Türkei zu bringen: Dass solche illegalen Praktiken existieren, wurde schon länger vermutet. Beweise fehlten jedoch – bis jetzt.

Nun gibt es weit mehr als die bisherigen Mutmaßungen. Das ist unter anderen Fayad Mulla zu verdanken, einem humanitären Helfer aus Österreich, der bis vor zwei Wochen auf der Insel Lesbos im Einsatz war. Er hat ein Video über eine Entführung und Aussetzung von Flüchtlingen im Meer am 11. April 2023 gemacht. Seine Aufnahmen liefern detaillierte Einblicke in die Geschehnisse, die dringende Fragen an die griechischen Asylverantwortlichen und an die Zuständigen für die EU-Abschottung gegenüber Flüchtlingen stellen.

The New York Times / Fayad Mulla

"New York Times" fand Entführte in der Türkei

Das Video hat Mulla der "New York Times" zur Verfügung gestellt. Journalistinnen und Journalisten des renommierten US-Mediums gelang es, elf Entführte in der Türkei wiederzufinden – darunter ein Baby und mehrere kleine Kinder. Sie befragten die Erwachsenen. Diese bestätigten, auf Lesbos von Vermummten festgenommen und auf einem Life-Boat ausgesetzt worden zu sein.

Dass sie zusätzlich auf Fotos der türkischen Küstenwache vom 11. April zu erkennen sind, unterstreicht die Beweiskraft des Vorgebrachte. Auch die Rettungsinsel, auf der man sie ihrem Schicksal überließ, wurde von der türkischen Küstenwache registriert. Laut einer Liste aller Aufgriffe von Flüchtlingen auf See wurde sie am 11. April 2023 um 14.30 Uhr im Meer zwischen dem griechischen Lesbos und der türkischen Küste bei Izmir entdeckt.

Tödliche Aussetzungen auf hoher See

Auf Lesbos würden die Geflüchteten in Kastenwagen ohne Kennzeichen an die Küste gebracht und dort auf Schiffen der griechischen Küstenwache an die türkische Seegrenze transportiert, schildert Mulla. Dort setze man sie auf den aufblasbaren Rettungsinseln – sogenannten Life-Boats – aus.

Die türkische Küstenwache finde die Rettungsinseln zumeist. Die Menschen würden dann zurück in die Türkei gebracht.

In manchen Fällen jedoch würden die Aussetzungen tödlich enden. Laut einem offiziellen Bericht des Innenministeriums in Ankara holten türkische Kräfte zum Beispiel am 13. September 2022 die Leichen von vier Kindern und einer Frau aus dem Wasser unweit einer halb überfluteten Rettungsinsel, in der sich noch sieben Personen befanden. Die griechische Küstenwache habe sie in die Gefährte gesetzt, erzählten sie.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MsF) bestätigt den Bericht der "New York Times": Immer wieder berichten Patienten unseren Teams von traumatischen Erlebnissen. Sie sprechen davon, wie sie aufgehalten und zur Rückkehr gezwungen werden – sowohl an Land als auch auf dem Wasser. Einige haben auch von Gewalt durch Grenzbeamte oder Sicherheitspersonal berichtet."

Umfassender "New York Times"-Bericht

Am Mittwoch ging ein umfassender, interaktiver Bericht der "New York Times" über die Vorgänge auf Lesbos online. Von der griechischen Regierung kam auf Anfragen des Blatts keine Stellungnahme.

Anitta Hipper, Sprecherin für Migrationsfragen für Innenkommissarin Johansson, erklärte, die EU-Kommission sei wegen des Videomaterials "besorgt". Man habe keine Möglichkeit, die Echtheit der Bilder zu bestätigen und werde mit den griechischen Behörden Rücksprache halten.

Migration müsse aus "würdige und humane Art" gemanagt werden, die menschliche Würde und der Grundsatz der Nichtzurückweisung müssten Grundlage des Grenzregimes sein. Die EU unterstützt das griechische Flüchtlingswesen mit Millionen-Euro-Summen, etwa auch über die Asylagentur der Union (EUAA).

Mit diesem Schiff der griechischen Küstenwache wurden die Asylsuchenden am 11. April 2023 von der Insel Lesbos an die Seegrenze zur Türkei ins Meer hinaus gebracht.
Foto: Fayad Mulla

Mehrere Hundert Entführungen seit 2020

Dem STANDARD schilderte Mulla, der auch der Vorsitzende der linken österreichischen Partei "Der Wandel" ist, wie er den Entführungen auf die Spur kam. Gerüchte darüber habe er seit seiner Ankunft auf Lesbos im September 2020 gehört.

"Die Deportationen starteten mit Beginn der Corona-Pandemie. Also ab dem Zeitpunkt, nach dem es keine legalen Rückführungen von Griechenland in die Türkei mehr gab", sagt er.

Informanten hätten ihm von Meeresbuchten erzählt, in denen Menschen auf Boote gezwungen würden. Auch Hinweise, wo auf der Insel die vermummten Suchtrupps unterwegs waren, habe er erhalten: "Dadurch gelang es mir, zwei solche Aktionen zu beobachten. Insgesamt müssen es bisher laut den Aufgrifflisten der türkischen Küstenwache mehrere Hundert gewesen sein, mit tausenden Betroffenen", schätzt Mulla.

Mit Wärmebildkameras gefunden

Wer genau die vermummten Männer sind, die auf den Inseln Asylsuchende aufstöbern, ist laut dem Österreicher ungeklärt. Uniformen oder sonstige Abzeichen, die sie als Polizeiangehörige ausweisen, hätten sie nicht an sich. Ihr Vorgehen jedoch sei von geschulter Effizienz und Härte geprägt. Aufgegriffenen Männern würden die Hände mit Kabelbindern gefesselt, wer sich widersetze, werde geschlagen.

Auch die engmaschige Zusammenarbeit der Suchtrupps mit der griechischen Küstenwache lasse auf Polizisten schließen. So würden die Flüchtlinge im Buschwerk der Insel mithilfe von Wärmebildkameras der Küstenwache gefunden. Auch chinesische Drohnen mit derartigen Kameras seien im Einsatz.

Vielfach finde eine Art Wettrennen um das Schicksal der Asylsuchenden statt. "Werden sie von NGOs oder offiziellen Behördenvertretern gefunden, von den sogenannten 'good guys', kommen sie ins Lager und können einen Asylantrag stellen. Sind die vermummten Sondereinheiten, die sogenannten 'bad guys', schneller, werden sie zurück ins Meer gebracht."

In Kastenwagen ohne Kennzeichen wie diesem werden die von den Suchtrupps gefundenen Asylsuchenden zu den Buchten der Insel gebracht, wo Schnellboote auf sie warten.
Foto: Fayad Mulla

Mulla: "Was hier dokumentiert wurde, sind Verbrechen"

Im heurigen März, so Mulla, habe er den Hinweis erhalten, dass auf der Insel gerade eine Sondereinheitsaktion stattfand: "Ich kam hinzu, als die Flüchtlinge Richtung Küste abtransportiert wurden." Mit dem Auto sei er dem Kastenwagenkonvoi gefolgt: "Die Wagen mit den Flüchtlingen im Fonds rasten mit bis zu 100 Stundenkilometern über die holprigen Schotterstraßen."

Mit dem Handy und einer Dash-Cam habe er Aufnahmen der Fahrt gemacht, sie liegen dem STANDARD vor. Am Ziel der Fahrt habe in der Bucht schon ein Schnellboot gewartet, um die Asylsuchenden zu einem Schiff der griechischen Küstenwache und mit diesem ins Meer hinaus zu bringen. Die Bucht sei leicht einsehbar gewesen, also habe er dort eine Kamerafalle aufgebaut. Diese schnappte bald zu: "So konnte ich den Abtransport am 11. April präzise bis hinaus ins Meer filmen."

"Was hier dokumentiert wurde, sind Verbrechen", sagt Mulla. Die Aufdeckungen müssten Folgen haben. In Griechenland stelle sich die Frage, wer den Auftrag zu den Entführungen gegeben habe und sie finanziere. Die EU müsse ihre Unterstützung der griechischen Asylpolitik überdenken. Diesbezüglich plane er eine Reihe von Sachverhaltsdarstellungen. (Irene Brickner, 19.5.2023)