So sah das Weltraumteleskop Hubble die Supernova Refsdal im Galaxiencluster MACS J1149.6+2223.
Foto: NASA/ESA/STScI/UCLA

Gravitationslinsen sind genau das, was ihr Name vermuten lässt: Die Schwerkraft von Galaxien oder Galaxienhaufen krümmt den sie umgebenden Raum so sehr, dass dahinterliegende Objekte größer oder verzerrt erscheinen und manchmal dupliziert werden.

Dieses Phänomen ist mehr als nur ein weiterer Beleg für die faszinierenden Auswirkungen der allgemeinen Relativitätstheorie. Es hat sich im Lauf der Jahre zu einer Art Arbeitspferd für die Astrophysik entwickelt, das wie eine Lupe genauere wissenschaftliche Einblicke ermöglicht.

Nun gibt es eine neue, spektakuläre Studie. Ein Forschungsteam um den Astrophysiker Patrick Kelly von der Universität Minnesota hat Bilder von Supernovae, die durch Gravitationslinsen verzerrt wurden, für eine neue Abschätzung der Ausdehnung des Universums benutzt. Diese Ausdehnung stellt aktuell eines der größten Rätsel der Astrophysik dar. Und das Ergebnis, das im Fachjournal "Science" publiziert wurde, überrascht.

Einstein-Kreuze

Das Einstein-Kreuz mit dem Namen G2237 + 0305, aufgenommen vom Weltraumteleskop Hubble.
Foto: NASA, ESA, and STScI

In diesem Fall ist es nicht die Vergrößerungswirkung der kosmischen Linsen, die sich für die Wissenschaft als nützlich erweist, sondern die Vervielfachung eines Objekts durch eine Gravitationslinse. Das dabei entstehende markante Bild nennt sich Einstein-Kreuz.

Die verschiedenen Bilder ein und desselben Objekts sind dabei nicht vollkommen identisch, sondern zeigen in der Regel verschiedene Momentaufnahmen. Die Wege, die das Licht auf dem Weg zur Erde nimmt, sind nämlich nicht exakt gleich lang. Das Licht trifft daher zu unterschiedlichen Zeiten ein, der Unterschied kann Tage oder Jahre betragen, also Zeiträume, die mit der Dauer von Wissenschaftsprojekten und Forscherkarrieren gut kompatibel sind. Interessant ist das bei kurzlebigen kosmischen Effekten wie Supernovae – gewaltigen Sternexplosionen, die zu den hellsten Phänomenen im Universum gehören.

Erst kürzlich konnte so eine Supernova in ihrer Frühphase beobachtet werden. Hin und wieder werden "fehlende" Supernovae entdeckt: Sie sind in manchen der durch die Linsen erzeugten Abbilder bereits sichtbar, in manchen stehen sie aber erst bevor. Die erste nachgewiesene Supernova, die durch Gravitationslinsen vervielfältigt wurde, hört auf den Namen "Refsdal", benannt nach einem norwegischen Astrophysiker. Das Einstein-Kreuz von Refsdal wurde 2014 entdeckt, war allerdings nicht komplett. Das erneute Aufblitzen der Sternenexplosion an einer anderen Stelle wurde für 2015 vorhergesagt, eine Prognose, die sich Ende 2015 eindrucksvoll bestätigte.

Auf Sjur Refsdal geht die Idee zurück, durch Gravitationslinsen vervielfältigte Supernovae zur Messung der Geschwindigkeit der Ausdehnung des Universums zu nutzen. Der Zeitpunkt des Auftauchens einer Supernova hängt nämlich neben der Entfernung und der Form der Linse auch von der Ausdehnungsgeschwindigkeit ab, denn während der Reise des Lichts durch das All dehnte sich der Raum und beeinflusste so die Laufzeit.

Rätsel um Hubble-Konstante

Der Wert dieser Geschwindigkeit, in der Astrophysik Hubble-Konstante genannt, ist eines der aktuell größten Rätsel der Kosmologie. Mehrere Methoden zu ihrer Schätzung liefern signifikant unterschiedliche Ergebnisse. Eine der Methoden nutzt die kosmische Hintergrundstrahlung, den elektromagnetischen Nachhall des Urknalls, während andere Methoden mit Teleskopen wie Hubble die Entfernungen zwischen den bekannten Himmelsobjekten und ihre Rotverschiebung untersuchen. Diese Rotverschiebung ähnelt dem von vorbeifahrenden Rettungsautos bekannten Dopplereffekt und ist ein Maß für die Geschwindigkeit des Objekts.

Diese unterschiedlichen Zugänge zur Messung der Hubble-Konstante hätten eigentlich helfen sollen, ihren Wert genauer zu bestimmen. Doch das misslang: Die Ergebnisse unterschieden sich wesentlich. Während Messungen mithilfe der Hintergrundstrahlung auf einen Wert von etwas unter 70 Kilometer pro Sekunde und Megaparsec (umgerechnet etwa drei Millionen Lichtjahre) kommen, liegen Messungen, die mit Entfernungsschätzungen arbeiten, deutlich darüber.

Die Refsdal-Supernova war die erste, deren Auftreten vorhergesagt wurde. Laut Berechnungen wäre sie erstmals im Jahr 1998 sichtbar gewesen, wurde damals aber noch übersehen. Erst das zweite Bild, das 2014 aufgenommen wurde, machte klar, dass es sich um ein sogenanntes Einstein-Kreuz handelt. 2015 tauchte sie dann, wie vorhergesagt, erneut auf.
HubbleWebbESA

Die bislang unauflösbare Diskrepanz wird von manchen als Krise der Astrophysik verstanden, ist aber auch äußerst interessant, scheint sie doch auf unbekannte physikalische Effekte hinzudeuten.

Um mehr über die Gründe für die Anomalie herauszufinden, braucht es weitere Messungen mit möglichst unterschiedlichen Methoden. Wie eine solche aussehen könnte, zeigt die neue Untersuchung der Supernova Refsdal. Doch das Ergebnis trägt nicht zur Entschärfung der Krise bei.

Unterschiedliche Werte

Bislang sah es nämlich so aus, als könnten die Unterschiede zwischen den Messergebnissen auf den stark unterschiedlichen Fokus der Messungen zurückzuführen sein. Während bei Analysen der kosmischen Hintergrundstrahlung sehr große Distanzen und Zeiträume bis zurück zum Urknall miteinfließen, sind die Daten der Entfernungsmessungen durch Teleskope deutlich jünger. Die Betrachtung großer Entfernungen schien, grob gesprochen, zu Werten unter 70, die Betrachtung kleiner Entfernungen zu Werten über 70 zu führen.

Das James-Webb-Weltraumteleskop machte diese Aufnahme einer Galaxie, die durch die Linsenwirkung des Galaxienclusters RX J2129 gleich dreimal sichtbar ist.
Foto: ESA/Webb, NASA & CSA, P. Kelly

Doch nun kommt die Untersuchung von Refsdal, die sich ebenfalls auf vergleichsweise kurze Entfernungen beschränkte, mit zwei unterschiedlichen Rechenmethoden zu Werten von 65 und 67. Das ist überraschend, weil bereits zuvor eine andere Forschungsgruppe die Hubble-Konstante mithilfe von Gravitationslinsen untersucht und einen höheren Wert von etwa 73 erhalten hatte. Dieser stimmt perfekt mit den bisherigen höheren Ergebnissen überein. Diese Gruppe betrachtete allerdings nicht Supernovae, sondern Quasare. Das sind Schwarze Löcher im Zentrum von Galaxien, die von einer Scheibe aus Gas umgeben sind, in der es zu extremen Effekten und enormem Energieausstoß kommt.

Das Team um Patrick Kelly führte seine Analyse, wie in solchen Fällen üblich, "blind" durch. Man stellte sicher, dass das Ergebnis erst ganz am Ende des Projekts für das Forschungsteam sichtbar sein würde. So lassen sich Einflüsse durch Wunschdenken ausschließen. In seiner Arbeit sieht das Team die Modellierung der Linsenwirkung des Galaxienhaufens als größten Unsicherheitsfaktor.

Fehlerwahrscheinlichkeit noch zu hoch

Die Astrophysikerin Sherry Suyu von der Technischen Universität München, die das oben erwähnte Projekt zur Bestimmung der Hubble-Konstante mithilfe von Quasaren leitete und an der neuen Studie nicht beteiligt war, betont allerdings, dass das Ergebnis von Kellys Team noch eine recht hohe Fehlerwahrscheinlichkeit hat. Der neue Wert stamme von einem einzigen Linsensystem, und angesichts der Fehlermarge sei die Messung statistisch gesehen konsistent mit den Ergebnissen aus der Untersuchung von Quasaren.

"Es ist üblich, dass die einzelnen Linsen aufgrund von Messunsicherheiten und statistischen Schwankungen in ihren separaten Schätzungen der Hubble-Konstante abweichen", sagt Suyu, die für ihre Studie sechs Quasare untersucht hatte. Es brauche mehr Studienobjekte.

Das Weltraumteleskop Hubble erwies sich also besonders effektiv zur Erforschung von Gravitationslinsen. Auch die Teams von Patrick Kelly und Sherry Suyu nutzten Aufnahmen von Hubble für ihre Arbeiten.
Foto: REUTERS

Ihr Team ist gerade mit einem größeren Projekt beschäftigt, das mehrere Gravitationslinsensysteme mit Supernovae unter die Lupe nimmt, um eine genauere Schätzung der Hubble-Konstante zu erhalten. "Linsen-Supernovae waren bisher sehr selten, aber die nächste Generation von Durchmusterungen, wie zum Beispiel die Rubin Observatory Legacy Survey of Space and Time, wird voraussichtlich Hunderte solcher Ereignisse liefern", sagt Suyu. Sie erwartet eine neue Ära der Forschung an Linsen-Supernovae.

Möglicher Hinweis auf Dunkle Energie

Das Rätsel um die verschiedenen Werte für die Hubble-Konstante hat aus Sicht der Forschung auch etwas Positives: Die Physik ist auf unerklärliche Phänomene angewiesen, an denen sie sich erproben kann. Nur so ist eine Weiterentwicklung und vielleicht eine Annäherung an eine mögliche noch umfassendere Theorie zur Beschreibung der Natur möglich. Gerade die Hubble-Konstante ist hier von besonderem Interesse, denn die Ausdehnung des Universums beschleunigt sich. Verantwortlich dafür ist die bislang rätselhafte Dunkle Energie. Eine Lösung des Widerspruchs um die Hubble-Konstante könnte also helfen, die Natur der Dunklen Energie genauer zu klären. (Reinhard Kleindl, 21.5.2023)