Die Indizien verdichten sich: Das Epstein-Barr-Virus dürfte bei vielen Menschen zur Entwicklung von multipler Sklerose beitragen.
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Viren können Autoimmunerkrankungen auslösen. Das mussten nicht zuletzt viele Covid-19-Erkrankte mit Langzeitfolgen selbst erfahren. Bei der Krankheit multiple Sklerose (MS) vermuten Fachleute mindestens seit den 1980er-Jahren einen Zusammenhang zum Epstein-Barr-Virus, das besonders weit verbreitet ist: Rund 98 Prozent aller Menschen über 40 tragen das Virus in sich. Freilich erkranken nicht alle an MS, und nicht alle MS-Erkrankungen sind auf diesen Infekt zurückzuführen. Doch nun dürfte ein Mechanismus geklärt sein, mit dem die Viren diese Autoimmunkrankheit auslösen können.

Bereits im vergangenen Jahr erschien eine vielbeachtete Studie zu dem Thema in der Zeitschrift "Science". Beschrieben wurden aussagekräftige Statistiken hinsichtlich des Zusammenhangs zwischen multipler Sklerose und dem Epstein-Barr-Virus (EBV) (DER STANDARD berichtete): In einer Stichprobe von 801 Personen mit MS hatte nur eine von ihnen zum Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs keine Antikörper gegen das Virus im Blut.

Das erklärt allerdings noch nicht den molekularen Hintergrund, also wie EBV einen Krankheitsausbruch provozieren kann. Doch kurz darauf erschien eine "Nature"-Studie, die wichtige Hinweise darauf lieferte. Das Team um Tobias Lanz von der US-Universität Stanford und der deutschen Uni Heidelberg analysierte die Antikörper von MS-Betroffenen. Das Team beobachtete, dass bestimmte Stellen von Antikörpern sowohl an Antigene des Epstein-Barr-Virus binden können als auch an Bestandteile der sogenannten Gliazellen im Gehirn.

Gefährliche Kreuzreaktion

Eine weitere wichtige Ergänzung liefert nun eine schwedisches Forschungsgruppe im Fachjournal "Science Advances". Durch mehr als 700 Blutproben von gesunden und an MS erkrankten Personen fand die Gruppe heraus, dass der gleiche Antikörperbaustein an ein weiteres Protein binden kann, das in Gehirn und Rückenmark auftritt. Dieses Protein mit dem Namen CRYAB ist dafür zuständig, bei Stress andere Eiweißstoffe "aufzuräumen". Bei Entzündungen und anderen Stressfaktoren verhindert es das Ansammeln anderer Proteine.

Wenn sich nun jene Antikörper, die das Epstein-Barr-Virus bekämpfen, auch gegen gewisse andere Körperzellen wenden, dürfte also auch das CRYAB-Protein bei seiner Arbeit behindert werden – eine Art Kreuzreaktion. Erstautorin Olivia Thomas vom Karolinska Institutet und ihr Team nehmen an, dass dadurch das Nervensystem geschädigt wird.

Damit können schwere Symptome der multiplen Sklerose einhergehen: Gleichgewichtsstörungen, eingeschränkte Beweglichkeit und Müdigkeit. Bei etwa 90 Prozent der Betroffenen – weltweit gibt es rund 2,5 Millionen – verläuft MS in den ersten zehn bis 15 Jahren in Schüben, die einige Tage oder Wochen anhalten können. Anfangs bilden sich die Einschränkungen in der Regel wieder zurück, später meist nicht mehr. Je nach Einzelfall kann die Krankheit unterschiedlich verlaufen.

Unterschiede zwischen Betroffenen

Auch die Auslöser der Krankheit dürften verschieden sein. In der schwedischen Studie fanden sich die untersuchten Antikörper, die sich nach einer EBV-Infektion bilden können, in etwa 23 Prozent der MS-Patientinnen und -Patienten sowie in sieben Prozent der gesunden Kontrollgruppe. "Das zeigt, dass diese Antikörperreaktionen zwar nicht für die Krankheitsentstehung erforderlich sind, aber bei bis zu einem Viertel der MS-Patientinnen und -Patienten an der Krankheit beteiligt sein können", sagt Olivia Thomas. Entsprechend seien auch personalisierte Therapien erforderlich. Derzeitige Therapien können die Schübe verringern, aber das Fortschreiten der Erkrankung nicht aufhalten.

Eine ähnliche Kreuzreaktion dürfte auch die T-Zellen des Immunsystems beeinflussen, fand das Team heraus. Diese Spur will man in weiteren Studien verfolgen. Interessant ist auch eine Beobachtung aus der vorangegangenen "Nature"-Studie: Die angreifenden Antikörper sind erst nur auf das EBV eingeschossen, entwickeln sich aber weiter. Der Prozess wird als "antibody refinement" bezeichnet, diese "Verfeinerung" kann Fachleuten zufolge aber wahrscheinlich ebenfalls Ereignisse auslösen, die zur multiplen Sklerose führen und damit großen Schaden anrichten. "MS ist eine unglaublich komplexe Krankheit, aber unsere Studie liefert ein wichtiges Puzzleteil und könnte erklären, warum manche Menschen die Krankheit entwickeln", sagt Olivia Thomas. (sic, red, 18.5.2023)