Wolodymyr Jermolenko (43) ist ein ukrainischer Philosoph, Essayist und Journalist, der in Kiew lebt und arbeitet. Seit dem Beginn von Russlands Invasion der gesamten Ukraine im Februar 2022 sind sein Podcast "Explaining Ukraine" und die Website seiner Multimediaplattform "Ukraine World" zu einer wichtigen Informations- und Analysequelle für die internationale Gemeinschaft geworden. "Ukraine World" ging aus einer Freiwilligeninitiative hervor, die während der Euromaidan-Revolution 2013/14 internationale Journalisten bei der Arbeit unterstützte.

STANDARD: Wie stellen sich heute die Arbeitsbedingungen für ukrainische Journalisten dar?

Jermolenko: Es ist eine sehr herausfordernde Situation für die ukrainischen Medien, weil das Kriegsrecht herrscht und sie unter entsprechend schwierigen Bedingungen arbeiten. Nehmen Sie etwa das Fernsehen: Seit den ersten Kriegstagen haben sich alle wichtigen öffentlichen und privaten Kanäle zusammengeschlossen, um die Ausstrahlung von Nachrichten und Analysen rund um die Uhr zu gewährleisten. Seither sind sie praktisch gleichgeschaltet, wir nennen das den "Single Marathon". Es gibt praktisch keine politischen Diskussionen und keinen politischen Wettbewerb mehr. Die TV-Formate, die dafür da waren, sind alle von heute auf morgen verschwunden.

STANDARD: Ukraine World ist eine Plattform, die sich um Berichterstattung nach westlichen Maßstäben bemüht. Aber wie weit können die Maßstäbe eines unabhängigen, Objektivität anstrebenden Journalismus gelten, wenn Ihr Land angegriffen wird?

Jermolenko: Ich verstehe, wenn manche Leute denken, dass objektiver Journalismus und Patriotismus widersprüchliche Konzepte sind. Ich glaube aber, dass man sehr wohl gleichzeitig ein Patriot und ein objektiver Journalist sein kann. Das große Problem für den hiesigen Journalismus ist aber ein anderes: Das heute in den ukrainischen Medien weitverbreitete Wunschdenken, was den Verlauf des Kriegs angeht. Die Wahrheit ist, dass es sehr viele Informationen gibt, die wir nicht auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen können. Das, was allgemein der "Nebel des Kriegs" genannt wird, ist real, und alle wissen es. Folglich ist in diesem Krieg oft weniger Desinformation das größte Problem, sondern Informationen, die nicht verifiziert werden können.

"Ich bin der europäischen Realität in der Ukraine näher als in Paris oder Berlin: Wolodymyr Jermolenko (43) berichtet auf der Plattform "Ukraine World" über das Land im Krieg.
Foto: Valentyn Kuzan

STANDARD: Was sind die größten Veränderungen, die Ihre eigene Plattform seit Februar 2022 erlebt?

Jermolenko: Unser Publikum ist massiv gewachsen. Wir reisen auch viel durch die gesamte Ukraine, berichten aus verschiedenen Orten und machen Videodokumentationen. Dabei verstehen wir uns aber nicht als "reine" Journalisten, weil wir unseren Journalismus nicht von unserem zivilgesellschaftlichen Engagement trennen. Ich selbst bin Journalist, Philosoph und freiwilliger Helfer. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass wir nie mit leeren Händen in einen Ort fahren, um von dort zu berichten. Wir sammeln immer vorher Ausrüstung für das Militär oder die Zivilisten, die dort kämpfen und leben.

STANDARD: Sie vertreten eine private Medienorganisation, die auf Spenden aus dem In- und Ausland angewiesen ist und ohne Geld vom Staat auskommen muss. Welche Rolle spielt der öffentlich-rechtliche Rundfunk der Ukraine im Kontext des Kriegs?

Jermolenko: Der öffentlich-rechtliche Rundfunk ist heute in seiner digitalen wie seiner analogen Form eine der zuverlässigsten Informationsquellen des Landes. Das Problem ist, dass die jetzige Regierung unter Selenskyj – genau wie die vorherige unter Petro Poroschenko – von der Idee eines unabhängigen öffentlich-rechtlichen Rundfunks nicht gerade begeistert ist. Der Krieg hat nicht wirklich geholfen, die Meinung zu ändern. Es ist definitiv nicht so, dass Selenskyj Regierung versucht, den öffentlichen Informationsraum zu monopolisieren oder dergleichen, aber die Situation ist kompliziert.

STANDARD: Können Sie das erläutern?

Jermolenko: Als Selenskyj 2019 Präsident wurde, hatte er nicht die Unterstützung der großen ukrainischen Fernsehsender. Die sind alle im Besitz von Oligarchen, die sie teils seit Jahrzehnten für ihre eigenen Zwecke nutzen. Entsprechend schwer fiel es ihm, seine Ideen für das Land zu verbreiten und die Regierungslinie so zu kommunizieren, wie er es sich gewünscht hätte. Ein Problem, das er auf zwei Wegen zu lösen versuchte. Erstens griff er in seinen Reden die Oligarchen direkt an und versuchte, ihren Einfluss zu verringern, indem er öffentlichen Druck auf sie ausübte. Zweitens versuchte er, auf den staatlichen Rundfunk Einfluss zu nehmen und als Plattform für seine Regierung zu nutzen, um für seine Politik zu werben. So problematisch das sein mag: Hätte er das nicht getan, wäre er völlig auf die Berichterstattung der Oligarchensender angewiesen gewesen.

STANDARD: Was hat sich in diesem Zusammenhang seit Kriegsbeginn verändert?

Jermolenko: Viel. Die Rolle der Oligarchen in der Ukraine nimmt immer weiter ab und der "Single Marathon" kommt vorwiegend Selenskyjs Regierung zugute. Insofern stellt sich die Frage, warum sie immer noch so viel Angst vor der politischen Opposition zu haben scheint, wie sie es tut. Es gibt inzwischen auch einige private Youtube-Kanäle, die sehr populär geworden sind, und obwohl ich das selbst nicht bestätigen kann, gibt es Gerüchte, dass mindestens einer von ihnen mit Andrij Jermak in Verbindung steht, dem Leiter des Präsidialamts. Es ist aber trotzdem nicht so, dass ich mir Sorgen um autoritäre Tendenzen oder Ähnliches mache.

Wir sind im Krieg, und alle verstehen, dass wir uns nur auf ein Ziel konzentrieren dürfen, und das ist, ihn zu gewinnen, weil es uns sonst nicht mehr gibt. Was die Meinungsfreiheit und die offene politische Debatte angeht, besteht das Problem darin, dass die Russen jede Meinungsverschiedenheit nutzen, um die ukrainische Staatlichkeit zu untergraben. Das zentrale Narrativ der russischen Medien über die Ukraine dient seit Jahrzehnten nur einem Ziel: das Vertrauen der Ukrainer in ihren Staat, ihre Regierung, ihre Institutionen, ihre Armee, ihre Gesellschaft, ihre Nachbarn, ihre Mitmenschen zu zerstören.

"Leute wie Jürgen Habermas verstehen nicht, dass man mit einem Mörder, der entschlossen ist, einen zu töten, keinen Dialog führen kann", sagt Jermolenko.
Foto: Valentyn Kuzan

STANDARD: Was erzählt uns der Zustand der ukrainischen Medienlandschaft im Krieg über ihre Zukunft im Frieden, wenn er irgendwann wieder kommen sollte?

Jermolenko: Wenn der Krieg nicht in diesem Jahr endet – und das halte ich für unrealistisch –, wird die Frage lauten: Bringen wir irgendwann zumindest Teile der offenen demokratischen Debatte zurück, die es vorher gab? Bringen wir zum Beispiel politische Talkshows ins Fernsehen zurück, in denen offen gestritten wird? Oder ist das angesichts der Situation zu gefährlich? Sehr heikle Fragen, aber ich glaube, dass wir allmählich – wenn auch sehr vorsichtig – zu diesem Zustand zurückkehren müssen.

STANDARD: Was ist aus Ihrer Sicht der größte Unterschied in der Wahrnehmung des Kriegs in der Ukraine und im Ausland?

Jermolenko: Viele Menschen außerhalb der Ukraine verstehen nicht, dass wir nicht per se pro Militär sind. Aber Tatsache ist, dass es uns ohne unser Militär nicht mehr geben wird. Ich verstehe, dass einige Leute im Westen überrascht sind, wenn sie sehen, dass Intellektuelle hierzulande massenhaft die Armee unterstützen. Das Problem mit diesen Leuten ist, dass sie die Grundlagen dessen, was die freie Welt frei macht, was die Quellen der Demokratie sind, völlig vergessen haben. Sie glauben, dass es bei Demokratie nur um das Führen eines Dialogs geht. Leute wie Jürgen Habermas verstehen nicht, dass man mit einem Mörder, der entschlossen ist, einen zu töten, keinen Dialog führen kann. Andererseits ist derlei kein neues Phänomen. Die Geschichte der Philosophie ist voll von Charakteren, die von schrecklichen Ideen verführt wurden. Denken Sie nur an Martin Heidegger oder Jean-Paul Sartre. Ich bin deshalb heute trotz allem lieber in der Ukraine als in Paris oder Berlin, weil ich hier das Gefühl habe, der europäischen Realität viel näher zu sein als dort.

Was Putin will, ist die Demokratie und Europa, wie wir es kennen, zu zerstören. Das ist keine Frage der Interpretation. Er sagt es, er meint es und was in Butscha oder Irpin oder Isjum geschah, ist eine perfekte Illustration dafür. Ich weiß, dass manche Leute in Österreich, Deutschland oder Frankreich glauben, dass das alles nur ein Märchen ist. Das letzte Mal, als ich in Paris war, bin ich mir entsprechend vorgekommen wie in der Matrix. Nun, ich lade diese Menschen ein, in die Ukraine zu kommen und dieselben Städte und Dörfer zu besuchen, in denen ich in den vergangenen zwölf Monaten war.

STANDARD: Ist es in diesem Zusammenhang hilfreich, wenn Präsident Selenskyj den Ukrainern sagt, dass eine EU-Mitgliedschaft in den nächsten zwei Jahren realistisch ist? Auch wenn die Chance, dieses Ziel in diesem Zeitraum zu erreichen, angesichts der politischen Realitäten in vielen EU-Mitgliedsstaaten gleich null erscheint?

Jermolenko: In den vergangenen zwei Jahrzehnten gab es viele Politiker, die ein konkretes Datum nannten, an dem das Land angeblich der EU beitreten würde. Die Ukrainer sind also an diese Art von Rhetorik gewöhnt, und es scheint ein charakteristisches Merkmal jeder neuen Politikergeneration zu sein, dass sie nicht aus den Fehlern der Vergangenheit lernt. Trotzdem glaube ich, dass Selenskyj nicht bewusst lügt, wenn er solche Dinge sagt. Tatsache ist, dass wir in einer Zeit leben, in der etwas passiert, das ich beschleunigte Geschichte nenne. Niemand hätte zum Beispiel am 23. Februar 2022 vorausgesagt, dass die Ukraine schon bald den EU-Kandidatenstatus bekommen würde. Es gab in den vergangenen Jahren derart viele Black-Swan-Events, dass man nicht umsonst glauben könnte, dass es bald der weiße Schwan sein wird, der die Ausnahme von der Regel ist. (Klaus Stimeder, 22.5.2023)