Im Sommer 1928 forschte der schottische Mediziner Alexander Fleming im Londoner St Mary’s Hospital an dem Bakterium Staphylococcus. Bevor er in den Urlaub ging, stapelte er die Petrischalen auf der Werkbank seines Labors. Nach der Rückkehr musste der Forscher zu seiner Verärgerung feststellen, dass eine seiner Bakterienkulturen von einem Pilz befallen worden war. Dessen Sporen waren in seiner Abwesenheit durch die Luft in die Petrischale eingedrungen und hatten sich auf dem Nährboden vermehrt. Die Bakterien im Umkreis der Pilzkultur waren abgestorben.

Schnell wurde dem Mediziner klar, dass der Pilz eine antibakterielle Wirkung haben musste. Er nannte ihn: Penicillin. Es war also reiner Zufall, dass Fleming das erste Antibiotikum entdeckte, das Millionen Menschenleben rettete.

Zahlreiche Erfindungen wie die Röntgenstrahlung, Teflon oder Benzol verdanken sich dem Zufall. Serendipität nennt man dieses Phänomen in der Wissenschaftstheorie, was so viel heißt wie Finderglück. Man kennt das ja aus dem Alltag: Da findet man manchmal auch Dinge, nach denen man gar nicht gesucht hat. Auch Forschung verläuft nicht linear: Wissenschafter stecken monate- oder jahrelang in einem Problem fest, ehe ein plötzlicher Geistesblitz die Denkblockade löst. Der Physiker Isaac Newton entdeckte die Gesetze der Schwerkraft, als er einen Apfel von einem Baum herunterfallen sah. Archimedes hatte seinen Heureka-Moment, als er beim Baden das überschwappende Wasser beobachtete und daraufhin das Prinzip der Volumenverdrängung formulierte.

Computer als Erfinder

Wissenschaftstheoretiker treibt die Frage um, ob sich der Erkenntnisfortschritt mithilfe von Computern beschleunigen, das Finderglück des Forschers quasi erzwingen lässt. Die Computerpionierin Ada Lovelace sagte einst, Computer könnten nichts erfinden. Doch knapp 200 Jahre später, wo KI-Systeme Texte und Bilder generieren, muss das Urteil womöglich revidiert werden. Das Sprachmodell ChatGPT wird in der Wissenschaft bereits in verschiedenen Feldern genutzt, beispielsweise um Zusammenfassungen von Aufsätzen – sogenannte Abstracts – oder Code zu schreiben. Können Maschinen also doch Innovationen schaffen?

Schon in den 1980ern tüftelte der Stanford-Informatiker John Koza an einer Computertechnik, die die natürliche Selektion kopiert. Die Idee: Was in vier Milliarden Jahren Evolution geschah, soll auf Dateiformat komprimiert und im Computer simuliert werden. Koza und seine Mitarbeiter schalteten die schnellsten Prozessoren, die damals verfügbar waren, zu einer raumgroßen Rechenmaschine zusammen, die bestehende Erfindungen "weiterdenken" sollte. Dazu wurde der Computer mit tausenden Patenten gefüttert, die ein genetischer Algorithmus anhand von Fitness-Kriterien immer wieder variierte und mutierte.

Welche Erfindungen hätte Marie Curie womöglich noch hervorgebracht, wenn sie eine KI zur Verfügung gehabt hätte?
Foto: Midjourney/Lisa Breit

Eine seltsam krumme Antenne

Als ein Nasa-Mitarbeiter in Kozas Labor den Computer mit dem Bauprinzip einer Antenne trainierte, spuckte die Software am Ende des Evolutionsprozesses, hunderte Generationen später, das Design einer seltsam krummen Antenne aus. "Es sah aus wie eine verbogene Büroklammer", erinnerte sich der Nasa-Mitarbeiter. Doch der Entwurf erwies sich als äußerst funktional – die Antenne flog mit dem Satelliten Space Technology 5 ins Weltall. Die Erfindungsmaschine, die Koza später patentieren ließ, brachte noch weitere Innovationen wie elektronische Schaltungen hervor. Allein durch die Imitation der natürlichen Reproduktion gelang es, technische Errungenschaften weiterzuentwickeln.

Das Genetic Programming ist durch das Aufkommen generativer künstlicher Intelligenz (KI) in den Hintergrund geraten. Doch KI hat auch auf anderen Gebieten zu Forschungsdurchbrüchen verholfen. So haben MIT-Forscher mithilfe einer KI ein neues Antibiotikum entdeckt: Halicin, benannt nach dem Computer HAL aus dem Spielfilm 2001 – A Space Odyssey. Auch in anderen Bereichen begegnen einem KI-Erfindungen: Der Bürstenaufsatz für elektrische Zahnbürsten des Herstellers Oral-B etwa ist die Frucht einer Brainstorming-Session, die der Programmierer Stephen Thaler 1998 mit einem neuronalen Netz hatte.

Dank der Fortschritte der Informationstechnologie stehen heute viel leistungsfähigere Werkzeuge zur Verfügung. Mithilfe von Big-Data-Analysen ist es möglich, in riesigen Datenmengen neue Muster zu identifizieren: Impfstoffe, Verhaltensweisen, physikalische Zusammenhänge. Das Higgs-Teilchen etwa, ein subatomares Partikel, wonach die Physik schon seit den 1960er-Jahren suchte, konnte am Cern mithilfe eines Deep-Learning-Verfahrens beobachtet werden. In den kühnen Vorstellungen der Techno-Utopisten könnte maschinelles Lernen einen Erkenntnisfortschritt entfesseln und ein neues Zeitalter der Entdeckungen einläuten, das wie in der Renaissance eine komplette Neuvermessung der geistigen Landschaft nach sich zieht. Stimmen denn unsere Annahmen über die Welt noch?

Keine wirklich neue Idee

Chris Anderson, der ehemalige Chefredakteur des Technikmagazins Wired, rief schon vor einigen Jahren das "Ende der Theorie" aus: Big Data mache wissenschaftliche Methoden überflüssig, es brauche keine Taxonomie oder Soziologie mehr. "Mit genügend Daten sprechen die Zahlen für sich selbst." Doch die Logik von Blackbox-Algorithmen zu entziffern ist schwierig, und der Rechenfortschritt von KI-Systemen ist bisweilen zirkulär, um nicht zu sagen: erratisch. So hat ChatGPT den Code für ein Onlinegame geschrieben, das bereits existierte. Wie ein aufmerksamer Nutzer herausfand, hat sich die Sprach-KI selbst plagiiert: Die Anleitung des kopierten Spiels war vermutlich in den Trainingsdaten enthalten.

Diese Praxis führt zu der Frage, was im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit (Walter Benjamin) als Erfindung gelten kann und welche rechtlichen Anforderungen an die "Erfindungshöhe" gestellt werden. Reicht es, ein paar Parameter zu verstellen? Ist das Zusammenpuzzeln von Daten nach einem statistischen Modell eine "erfinderische Tätigkeit" und damit patentierbar? Vor allem: Wer gilt als Erfinder? Der Mensch, der die Prompts schreibt? Die Entwickler der KI? Oder die künstliche Intelligenz selbst? Darüber tobt in der Rechtswissenschaft ein heftiger Streit.

Nicht patentierfähig

Der Programmierer Stephen Thaler hat in mehreren Ländern, darunter Südkorea, Klagen eingereicht, um seiner KI den Status eines "Erfinders" zuerkennen zu lassen. In den USA und Großbritannien blitzte Thaler mit seinem Ersuchen ab. Der High Court in Australien gab dem Informatiker dagegen in Teilen recht: Das Gericht erkannte KI grundsätzlich als Erfinderin an, jedoch seien KI-generierte Schöpfungen nicht patentierfähig.

Gewiss, die KI wird das Rad nicht neu erfinden. Doch je kreativer neuronale Netze werden, desto weniger lässt sich die Monopolisierung geistiger Schöpfungen beim Menschen rechtfertigen. Die Frage, ob der Mensch intelligente Systeme neben sich duldet, wird am Ende darüber entscheiden, ob uns Denkmaschinen klüger machen. (Adrian Lobe, 21.5.2023)