Amerika, ein Land, das auseinanderfällt, das auseinandergebrochen wird von Gier, Ausbeutung, dem Verlust von Heimat.

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"And the star-spangled banner in triumph doth wave / O’er the land of the free and the home of the brave!" Und das sternengeschmückte Banner weht triumphal übers Land der Freien und die Heimat der Mutigen! Als Francis Scott Key 1814 dies schrieb, ahnte er nicht, dass sein Gedicht The Star-Spangled Banner die Nationalhymne der Vereinigten Staaten von Amerika werden würde. Dabei sehen sich die Freien und Mutigen außerhalb der USA bis heute Problemen gegenüber. Denn Amerikaner, so der US-Humorist Dave Barry, "die zum ersten Mal ins Ausland reisen, sind oft schockiert, weil sie entdecken, dass trotz des Fortschritts der vergangenen 30 Jahre viele Ausländer noch immer ausländisch reden".

Wie geht es aber Europäern mit Amerika? "Amerika ist so groß, dass fast alles, was über das Land gesagt wird, mit großer Wahrscheinlichkeit richtig ist. Wie auch das genaue Gegenteil." Meinte der Romancier James T. Farrell. Sagen Greenwich, Connecticut, und Clarksburg in West Virginia und Chicago Richtiges aus? Und wenn ja, worüber?

Ein Land ohne Halt

Das etwa waren und sind Lebens- und Arbeitsstationen des preisgekrönten New Yorker-Journalisten Evan Osnos. In Mein wütendes Land analysiert er, autobiografisch unterfüttert, die vergangenen 20 Jahre und zeichnet überaus famos ein Bild eines Landes, dessen soziales Gewebe lange schon ideologischem Schwelbrand ausgesetzt und inzwischen fast diffundiert ist. Kurz gesagt: ein Land, das auseinanderfällt, das auseinandergebrochen wird von Gier, Ausbeutung, dem Verlust von Heimat – was er schön am Versiegen des Lokaljournalismus zeigt – und einer Radikalisierung, die bürgerliche Tugenden ausradiert.

Weshalb Osnos am Ende optimistisch ist, bleibt ein Rätsel. Richtiger wäre der Befund: einzig heilbar nur mittels sozialpolitischer Rosskur. Die, als New Deal à la Roosevelt, von Gemeinwohl und Weitblick getragen werden müsste. Franklin D. Roosevelt ist übrigens einer der drei US-Präsidenten, über die am meisten geschrieben wurde. Der andere ist John F. Kennedy. Der dritte: Donald J. Trump.

Täuschung

Kaum ein Buch, so heißt es in US-Medien, habe Trump mehr gefürchtet als Maggie Habermans Täuschung. Die Journalistin, die lange in New York arbeitete und seit 2014 Weißes-Haus-Korre spondentin der New York Times ist, hat einen höchst aufschlussreichen Zugang gewählt. Sie zeichnet entlarvend den biografischen Unterbau seiner Präsidentschaft nach, sein Leben und seine Geschäftstätigkeit bis ins Jahr 2016.

Plastisch schildert sie, wie er Methoden, Gewissenlosigkeit und brachiales Auftreten von anderen kopierte. Ihn bloß Machiavellist zu nennen wäre falsch. Zum einen verstünde er dies nicht. Zum anderen entsprach sein Geschäftsgebaren eher dem der New Yorker Stadtpolitik der 1960er- und 1970er-Jahre, als die Demokratische Partei in New York wie ein Mafiakartell agierte. "The House of Trump": ein mehrfach fallierendes Kartenhaus aus Lügen, aufschneiderischer Dreistigkeit, präpotentem Infamieren plus Advokaten und "Problemlösern", die er allesamt gegeneinander ausspielte. Dieses instinktive Agieren und Reagieren nahm er mit ins Weiße Haus. Dazu das Vertrauen einzig zu Blutsverwandten, die er aber ausdauernd verspottete und beleidigte.

Vieles ist über die Jahre 2017 bis 2021 bekannt. Dass Trump nie verstand, wie Entscheidungswege abliefen. Dass er keinerlei Linie verfolgen konnte, weil er keinerlei Programm hatte. Denn außer exaltierter Egozentrik, hypernarzisstischem Gieren nach Aufmerksamkeit und einem In-out-Modus – als Präsident gerierte er sich als permanenter Outsider-Wahlkämpfer – hatte er nichts zu offerieren. Sein Team war von Beginn an durch interne Neidkabalen paralysiert. Über Monate, teils Jahre waren Abteilungen und Ministerien nicht oder zumindest unterbesetzt. Die wenigen Kompetenten, die ihn zu lenken versuchten, resignierten. Einen solchen Tiefeneinblick in eine lächerlich dysfunktionale Regierung und deren Entscheidungsfindungen wünschte man sich auch für andere Kabinette.

Lügen, an die nur er glaubt

Merkwürdig, wie Haberman am Ende Trump zeichnet, als sie ihn nach der Wahl im Frühjahr 2021 zweimal in Mar-a-Lago interviewt: als traurigen Clown, der seine Heloten eingebüßt hat, aber noch immer in einem Satz mehrere Lügen unterbringt, an die nur er glaubt. Das unterschätzt die Folgen dieses Mannes. Allerdings: "Trumpismus" ist Attitüde, keine Weltsicht. Seine gedankliche Tiefe ist flacher als ein Bildschirmschoner. Sein Erbe – und manche fragen bang angesichts des sich anbahnenden Duells mit dem um fünf Jahre greiseren Biden: was, wenn er wiederkommt? – ist der Frontalangriff auf Institutionen des Rechts, der Demokratie, der Zivilgesellschaft. Durch deren ausdauerndes Diffamieren zum Zweck persönlicher Vorteilsnahme.

Susan Glasser und Peter Baker, sie beim New Yorker, er bei der New York Times, haben Bücher über die Präsidenten Clinton, Bush Jr. und Obama geschrieben. Nun legen sie ihr ausgreifendes Panorama, für das sie mehr als 300 Interviews führten, der kompletten vier Jahre Trump-Administration vor. Es ist eine so himmelschreiend groteske Lektüre über, sehr treffend, den "ersten Reality-TV-Präsidenten Amerikas", ja fast ein Guilty Pleasure, weil es so viel beklemmend Banales gab, grenzdebiles Verhalten und Muster von ungetrübter Vulgarität.

Nikole Hannah-Jones (Hg.), "1619. Eine neue Geschichte der USA". Übersetzt von Tanja Handels u. a. € 36,– / 816 Seiten. Blessing, 2022
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Reality-TV im Weißen Haus

Empfehlenswert ist es, dieses großartige Buch mit Garrett A. Graffs neuem, minutiösem, ebenso haarsträubendem Buch über die Watergate-Affäre zu kombinieren. Denn hier wie dort handelt es sich wörtlich wie übertragen um Einbruch, um den Kollaps der Politik und dessen Austausch nicht durch Antipolitik, sondern durch unverstelltes kriminelles Verhalten und finanzielle Bereicherung.

Glasser und Baker haben ein anderes Schreibtemperament als Haberman. Mit sardonischer Verve sezieren sie das Totalchaos. Porträtieren die Kamarilla um Trump, Erfüllungsgehilfen eines jeder Nuance abholden TV-süchtigen Ignoranten. Bakers und Glassers Fazit ist ernüchternd – und erschütternd: Die Ära Trump ist nicht Vergangenheit, sie ist die Gegenwart – und vielleicht sogar die Zukunft. Schließlich führt er trotz Verurteilung als Sexualstraftäter aktuell das Feld der Republikaner-Kandidaten mit Vorsprung an. In der Geschichtsschreibung gibt es immer wieder neue Bewegungen, neue Deutungswendungen und Revisionen.

So schilderte der Historiker Woody Holton von der University of South Carolina 2021 in Liberty Is Sweet die Amerikanische Revolution so intensiv wie verblüffend neu: unter den Gesichtspunkten von "class" und "race". Denn Frauen, Native Americans, Schwarze und religiöse Dissidenten spielten eine gewichtige Rolle.

Peter Baker und Susan Glasser, "The Divider. Trump in the White House, 2017–2021". € 34,– / 732 Seiten.
Doubleday, 2022
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Maggie Haberman, "Täuschung. Der Aufstieg Donald Trumps und der Untergang Amerikas". Übersetzt von Christiane Bernhardt u. a. € 37,10 / 832 Seiten. Siedler, 2022
Foto: Siedler

Von 1619 bis heute

Ganz Ähnliches, eine Revision der Historiografie, initiierte die Journalistin Nikole Hannah -Jones mit 39 Essays, die, zuerst im New York Times Magazine gedruckt, nun als Buch vorliegen. Diese Alternativgeschichte setzt nicht 1492 ein, sondern 1619: in jenem Jahr, als die ersten afri kanischen Sklaven in Nordamerika angelandet wurden.

Bis in die Gegenwart hinein wird die Historie der Vereinigten Staaten von Amerika erzählt: als Geschichte von Rassismus und Dis kriminierung. Unter eine Schlagwortkette gestellt, von Demokratie, Angst, Strafe zu Musik, Verkehr, Fortschritt und Kirche, werden in Sprüngen 400 Jahrhunderte des Rassenhasses, der Unterdrückung von Minderheiten und der sozialen Spaltung nachgezeichnet. Gut lesbar ist das, historische Tiefe ist vorhanden, kluge Erkenntnisse sind an nicht wenigen Stellen zu finden.

Evan Osnos, "Mein wütendes Land. Eine Reise durch die gespaltenen Staaten von Amerika". Übersetzt von Stephan Gebauer. € 32,90 / 640 Seiten.
Foto: Suhrkamp

In seinem Poem I Hear America Singing zählte einst Walt Whitman Zimmermann und Maurer und Schuster auf, Mütter und junge Frauen, die nähen oder Wäsche waschen, "singing with open mouths their strong melodious songs".

All diesen Menschen wird in Nikole Hannah-Jones’ Essaysammlung 1619 zumindest eine Stimmverstärkung zuteil. (Alexander Kluy, 21.5.2023)