Die Couch ist seit Sigmund Freud Symbol für Gesprächsherapien, die helfen sollen, psychische Probleme zu behandeln.
Foto: Getty, Collage und Zeichnung: Armin Karner

Eine Instant-Psychotherapie in 90 Sekunden via Social Media? Ein KI-Chatbot als mentaler Coach? Angststörungen, ADHS und depressive Verstimmungen trenden in den sozialen Medien. In Zeiten ständiger Krisen erheben junge Menschen auf Tiktok, Youtube und Instagram etwas zum höchsten Gut: Mental Health.

Der unkonventionelle Umgang der Tiktok-Generation mit psychischer Gesundheit mag verwundern, Selbstdiagnosen werden oft vorschnell gestellt. Positiv ist daran immerhin, dass seelische Leiden und ihre Behandlung inzwischen weit weniger tabuisiert sind als noch vor wenigen Jahren. Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen und das Wissen um mögliche Therapien nehmen zu.

Die Entstigmatisierung ist dringend nötig angesichts dessen, wie weitverbreitet psychische Krisen sind – vor allem unter Kindern und Jugendlichen. Nicht zuletzt als Folge der Pandemie haben psychische Probleme massiv zugenommen. Verschiedene Studien stellen einen deutlichen Anstieg fest, teilweise wird gar von einer Vervierfachung ausgegangen.

Auf der Couch in der Berggasse

Es ist gute hundert Jahre her, dass Sigmund Freud im Wien der Jahrhundertwende Patientinnen und Patienten in der Berggasse 19 auf seine Couch bat und sie von ihrem Innenleben erzählen ließ. In der Zwischenzeit haben sich unterschiedliche Methoden der Psychotherapie entwickelt. Man steht daher vor keiner leichten Wahl, wenn man sich für eine Psychotherapie entscheidet. Wie lässt sich herausfinden, was wirklich hilft?

Für die Behandlung von körperlichen oder psychischen Erkrankungen gilt ganz generell: Die beste Methode, um herausfinden, was wirkt, sind breit angelegte Studien. Als Goldstandard gelten Studiendesigns, bei denen zufällig ausgewählt wird, wer eine bestimmte Behandlung bekommt und wer in eine Kontrollgruppe aufgenommen wird, die nur ein Placebo erhält. Im Fachjargon spricht man von kontrolliert randomisierten Studien.

"Patienten wollen mit Therapien behandelt werden, bei denen klar ist, dass sie wirksam sind und das Leid lindern." – Brigitte Lueger-Schuster, Professorin für Psychotraumatologie

Geht es um psychische Behandlungen, ist dieser Goldstandard nicht so einfach umzusetzen. Zunächst braucht es dafür eine größere Gruppe an Menschen mit dem gleichen psychischen Leiden. Und angesichts dessen, dass es sich bei psychischen Prozessen um zutiefst individuelle Angelegenheiten handelt, ist das Feststellen objektiver Wirkfaktoren nicht so leicht zu bewerkstelligen. Die evidenzbasierte Forschung zu Psychotherapie hat erst in den vergangenen Jahren so richtig Fahrt aufgenommen – und einige bemerkenswerte Erkenntnisse hervorgebracht.

Manchmal besser als Medikamente

"Die wissenschaftliche Forschung für Evidenzen von Psychotherapien hat mehrere Hürden, aber auch einen großen Wunsch, nämlich aufseiten der Patienten", sagt Brigitte Lueger-Schuster, Professorin für Psychotraumatologie an der Universität Wien. "Natürlich wollen Patienten mit psychotherapeutischen Verfahren behandelt werden, bei denen klar ist, dass sie wirksam sind und tatsächlich das Leid lindern." Für Lueger-Schuster ist daher der evidenzbasierte Ansatz in der Psychotherapie extrem wichtig und verdient noch mehr Aufmerksamkeit als bisher.

Zahlreiche Studien zeigen, dass Psychotherapien wirksam sind. "Das ist ganz eindeutig", sagt Christian Korunka, Professor für Psychologie an der Universität Wien, der auch den postgraduellen Universitätslehrgang Psychotherapeutisches Propädeutikum leitet. "Psychotherapien sind hochwirksam, die Effekte sind ähnlich stark wie bei medikamentösen Behandlungen oder sogar besser als diese."

Revolutionärer Ansatz

Was die Wissenschaft aber immer noch beschäftigt, ist, welche Psychotherapie am besten für eine bestimmte Person hilft. "Das ist genau der Punkt, an dem die Psychotherapiewissenschaft aktuell forscht", sagt Markus Böckle, der das Department für Forschung und Wissenschaft im Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie (ÖBVP) leitet. "Wir würden gerne vorhersagen können, welche Therapie bei welchem Patienten die beste ist." Noch fehlen dafür aber die entsprechenden Daten.

Ein revolutionärer Ansatz, der basierend auf Datensätzen von bereits Therapierten Vorhersagen für den Patienten oder die Patientin trifft, der oder die soeben erst das Behandlungszimmer betreten hat, wird derzeit in Deutschland erprobt: Im Psychotherapy Lab in Greifswald in Mecklenburg-Vorpommern arbeiten sich neue Patienten zunächst einmal durch einen Fragenkatalog, ehe ein Computerprogramm Daten verarbeitet und sie mit jenen Personen in der Datenbank verknüpft, deren individuelle Geschichten am ähnlichsten sind. Basierend auf den früheren Therapieverläufen lassen sich Ableitungen treffen, welche Therapie am vielversprechendsten ist.

Eva-Lotta Brakemeier, die Leiterin des experimentellen Labors, ist Professorin für Psychologie und eine der bekanntesten Expertinnen Deutschlands für die Behandlung von Depressionen. Mit den bisherigen Befunden, dass Psychotherapie für die meisten Patienten wirksam sei, will sie sich nicht zufriedengeben. "Wir müssen einfach besser werden", sagte sie unlängst in der "Zeit".

Vier wirksame Strömungen

Das Ziel sei, Therapieansätze weiterzuentwickeln und wissenschaftlich zu überprüfen. Teil des Experiments ist auch, neue Therapien zu entwickeln, um damit die für den jeweiligen Patienten oder die jeweilige Patientin am besten passenden Ansätze aus verschiedenen psychotherapeutischen Verfahren zu nutzen.

Generell gibt es vier große Strömungen in der Psychotherapie:

  • Verhaltenstherapien
  • systemische Therapien
  • humanistische Therapien und
  • tiefenpsychologisch-psychodynamische Therapien

Die Wirksamkeit all dieser Therapieformen ist wissenschaftlich bestätigt, und man kann davon ausgehen, dass sie alle ähnlich gut wirken.

Diesen verschiedenen Ansätzen liegen aber jeweils andere Menschenbilder zugrunde, und sie sind in anderen historischen Kontexten entstanden. So darf nicht überraschen, dass zwischen Vertretern dieser Strömungen nicht immer Einigkeit herrscht. Tiefenpsychologen halten der Verhaltenstherapie mitunter vor, lediglich Symptome zu behandeln. Verhaltenstherapeuten erschließt sich manchmal nicht, wie die intensive Beschäftigung mit der Kindheit konkret dabei hilft, akute Probleme in den Griff zu bekommen.

Stärkste Evidenzen zu Verhaltenstherapie

Obwohl Studien für alle vier Strömungen eine hohe Wirksamkeit belegen, ist die Evidenzlage am stärksten für die kognitive Verhaltenstherapie. Im Zentrum steht dabei, krankmachende Verhaltensweisen zu erkennen und diesen entgegenzusteuern. Zum guten Abschneiden der Verhaltenstherapie ist allerdings anzumerken, dass sie sich am besten für standardisierte Tests eignet. Evidenzen zur Wirksamkeit lassen sich daher bei dieser Strömung viel besser feststellen als bei anderen Therapien.

Für Christian Korunka haben alle vier therapeutischen Strömungen ihre Berechtigung und müssten erhalten bleiben. Sieht man sich die Studien zur Wirksamkeit von Psychotherapien genauer an, zeigt sich interessanterweise auch, dass die konkrete Methode gar nicht die größte Rolle spielt. Bereits seit Jahrzehnten ist bekannt, dass die Beziehung zwischen Therapeutin und Patient ein ganz entscheidendes Kriterium ist, wie wirksam eine Therapie ist. "Es braucht Vertrauen, und dafür braucht es eine gewisse Sympathie, und die Therapeutin muss auch in der Lage sein, diese professionelle Beziehung gut zu entfalten und zu kontrollieren", sagt Lueger-Schuster.

Den oder die Richtige finden

Weiters fallen Eigenschaften des Patienten ins Gewicht, also etwa wie therapiewillig die Person ist oder welche anderen Leiden neben den psychischen Problemen bestehen. Auch Eigenschaften des Therapeuten spielen eine große Rolle: Es ist bekannt, dass manche Therapeuten eine extrem hohe Erfolgsquote haben, und das scheint mehr an ihrer Persönlichkeit zu liegen als an der Methode, die sie anwenden. Erst weit abgeschlagen kommen bestimmte Methoden und Techniken als Wirkfaktor zum Tragen.

"Psychotherapie sollte keine Klassengesundheitsleistung sein", sagt Böckle. "Jeder, der sie braucht, sollte kostenlos Zugang haben." – Markus Böckle, Leiter des Departments für Forschung und Wissenschaft, Österreichischer Bundesverband für Psychotherapie

Daraus den Schluss zu ziehen, dass die konkrete Methode irrelevant sei, stimmt aber auch wieder nicht. Denn: "Die therapeutische Beziehung ist sehr unterschiedlich in den verschiedenen therapeutischen Richtungen, und sie muss auch entsprechend gelernt werden", sagt Korunka.

Kombination mit Medikamenten

Bislang orientieren sich psychotherapeutische Behandlungen vor allem an einer der vier Strömungen. Der evidenzbasierte Zugang, der etwa im Psychotherapy Lab in Greifswald entwickelt wird, zielt hingegen darauf ab, verschiedene Methoden individuell für den jeweiligen Patienten zu kombinieren, um den besten und schnellsten Therapieerfolg zu erzielen.

Und der Ansatz greift sogar noch weiter: Auch die Kombination von Psychotherapie und Psychopharmaka wird darin forciert. Das ist ein Novum, denn bislang ist es immer noch häufig so, dass es zwischen Ärzten, die Psychopharmaka verschreiben, und Psychotherapeuten, die Therapien durchführen, wenig Austausch gibt. Dabei zeigen Studien, dass die Kombination von Medikamenten und Therapien noch wirksamer ist als die jeweiligen Behandlungen allein.

Risiken einer Behandlung

Eine andere Frage, die durch die evidenzbasierte Forschung zu Psychotherapien in den Vordergrund getreten ist, ist jene nach potenziellem Schaden. Einige Fachleute sind der Meinung, dass im Prinzip jeder Mensch davon profitieren kann, sich aktiv mit der eigenen psychischen Gesundheit auseinanderzusetzen. Andere mahnen aber zur Vorsicht: Unter gewissen Umständen könnten Psychotherapien auch mehr schaden als nutzen.

Generell gibt es noch recht wenige Studien zu möglichen negativen Effekten von Psychotherapien. Als ein mögliches Risiko und eine unerwünschte Nebenwirkung von Psychotherapien nennt Böckle, dass sich "Beziehungen in der Regel verändern, indem man Beziehungsdynamiken besser versteht". Manchmal seien diese Veränderungen willkommen, manchmal würden sie dagegen als Belastung empfunden.

Neues Psychotherapiegesetz

Einen noch stärkeren Fokus auf evidenzbasierte Therapie könnte auch ein neues Psychotherapiegesetz bringen, das derzeit in Ausarbeitung ist. 1991 wurde das erste Psychotherapiegesetz beschlossen, das bis heute die rechtliche Grundlage für Psychotherapie in Österreich darstellt. "Damals war das ein großer Wurf, es gilt als eines der besten diesbezüglichen Gesetze weltweit", sagt Korunka.

Das Gesetz habe aber von Anfang an das Manko der fehlenden Akademisierung des Berufs gehabt. Korunka erwartet sich durch das Gesetz große Veränderungen, und das hat auch mit den Ausbildungskosten zu tun. Bisher werden diese privat getragen: Für angehende Therapeutinnen und Therapeuten kostet die Ausbildung aktuell mehrere Tausend Euro. Mit dem neuen Gesetz, das sich die schwarz-grüne Koalition vorgenommen hat, soll die Ausbildung zu einem regulären Universitätsstudium werden, für das – wenn überhaupt – nur Studiengebühren anfallen. Noch gibt es keinen genauen Zeitplan, Korunka rechnet im kommenden Jahr damit.

Großer Bedarf – und eine Klassenfrage

Ein Knackpunkt ist freilich, wie viele Studienplätze es künftig für Psychotherapie geben wird. Dieser Punkt ist umso heikler angesichts der Überalterung unter den derzeit aktiven Therapeutinnen und Therapeuten: Rund 40 Prozent werden in den nächsten zehn Jahren in Pension gehen oder kürzertreten.

Um den Bedarf an Psychotherapien zu decken, bräuchte es laut Korunka in etwa doppelt so viele Behandlungsstunden wie derzeit von Psychotherapeuten angeboten werden, nur ein kleiner Teil wird von den Krankenkassen finanziert. Böckle verweist darauf, dass Menschen mit psychischen Problemen häufig aus einem sozial schwachen Umfeld kommen und wenig finanzielle Mittel haben.

"Psychotherapie sollte keine Klassengesundheitsleistung sein", sagt Böckle. "Jeder, der sie braucht, sollte kostenlos Zugang haben." Egal für welche Therapie man sich entscheidet, klar ist, dass sie die beste und nachhaltigste Möglichkeit ist, um psychische Krisen zu bewältigen. "Man muss sich nicht schämen, eine Therapie zu machen", sagt Böckle, "sie ist genau das richtige Hilfsangebot, das einem hilft, wenn es einem psychisch schlechtgeht."

Therapie mittels Tiktok?

Angesichts der Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen, wie sie noch vor wenigen Jahren häufig zum Tragen kam, überrascht der ungezwungene Zugang vieler junger Menschen zu dem Thema. Hashtags wie #MentalHealth oder #Selfcare zählen zu den beliebtesten auf Plattformen wie Instagram und Tiktok.

Dennoch wäre es ein Trugschluss zu glauben, dass die Beliebtheit von Online-Diagnose-Fragebögen oder 60-Sekunden-Selfcare-Ratschlägen der psychischen Gesundheit der Jugendlichen immer zuträglich ist, wie die Schulpsychologin Beatrix Haller kürzlich im STANDARD betonte: "Das ist ein zweischneidiges Schwert. Natürlich kann es zur Entstigmatisierung beitragen, es ermutigt manche dazu, sich Hilfe zu holen. Aber es kann auch negativ beeinflussen. Vor allem bei Teenagern, die bereits in einer Krise stecken oder erste Symptome einer psychischen Erkrankung aufweisen, können solche Beiträge die Krise noch einmal verstärken."

An professioneller Hilfe führt also kein Weg vorbei. Psychotherapien erfordern Zeit und Geduld, oft auch Geld. Es wäre falsch, sich eine rasche Beseitigung sämtlicher Probleme durch eine Therapie zu erwarten. Aber sie ist das wirksamste Mittel, um psychisches Leid zu lindern. Und angesichts neuer Erkenntnisse wird sie laufend noch besser. (Tanja Traxler, 20.5.2023)