Die Jahresberichte von Freedom House, einem US-amerikanischen Thinktank, bieten deprimierenden Lesestoff: Seit 17 Jahren sei die Zahl der liberalen Demokratien, die nach 1989 sprunghaft angestiegen war, wieder im Sinken begriffen. Doch der jüngste Bericht bot auch einen Funken Hoffnung: "Der Kampf für Demokratie könnte an einen Wendepunkt gelangen", schrieben die Autoren. Denn fast genauso viele Staaten hätten im vergangenen Jahr politische Rechte und Freiheiten ausgeweitet wie eingeschränkt. "Die Ereignisse zeigen, dass Autokraten nicht unfehlbar sind, und ihre Irrtümer bieten demokratischen Kräften eine Chance."

Das hat auch die erstmals geeinte Opposition in der Türkei geglaubt, die angesichts einer katastrophalen Wirtschaftspolitik und des offensichtlichen Staatsversagens nach dem Erdbeben im Februar auf einen Sieg über Recep Tayyip Erdoğan setzte. Das Wahlergebnis vom vergangenen Sonntag war trotz der Stichwahl, in die der türkische Präsident in einer Woche gehen muss, ernüchternd.

Ebenso ging es der Opposition in Ungarn, als sie sich im Herbst 2021 auf ein Bündnis einigte, das mit Péter Márki-Zay Langzeitpremier Viktor Orbán herausforderte – und bei den Parlamentswahlen im April 2022 klar scheiterte. Den liberal-bürgerlichen Parteien in Polen droht bei den Wahlen im Herbst ein ähnliches Schicksal gegen die rechtskonservative PiS-Regierung. Und in Thailand haben es die Generäle trotz des überwältigenden Wahlsiegs der beiden Oppositionsparteien in der Hand, auch die nächste Regierung zu stellen. Der von ihnen bestellte Senat kann dafür sorgen.

Venezuela, Iran, Belarus

Noch ernüchternder sind die Erfahrungen in Staaten, in denen sich die Machthaber nicht einmal um den Anschein einer demokratischen Legitimität scheren. In Venezuela hat der Linkspopulist Nicolás Maduro, der eines der ölreichsten Länder der Welt in ein Armenhaus verwandelt hat, mit zahlreichen politischen Manövern den Ansturm der Opposition, die vor fünf Jahren kurz vor dem Machtwechsel stand, abgewehrt und seine Macht konsolidiert. Im Iran hat sich auch die jüngste Protestwelle, die so viel breiter und dynamischer gewirkt hat als frühere Bewegungen, totgelaufen, haben die Mullahs und Revolutionsgarden wieder die Kontrolle über die Straße erlangt.

Grafik: Fatih Aydogdu

In Belarus hat Machthaber Alexander Lukaschenko 2020 die größten Proteste in der Geschichte des Landes zuerst ausgesessen und dann brutal niedergeschlagen. In Russland kann wohl nur eine vernichtende Niederlage in der Ukraine Wladimir Putins brutale Herrschaft beenden, ohne dass sein System deshalb ebenfalls gestürzt werden würde. Hongkong, Myanmar, Sudan – die Welt ist ein einziger Friedhof geplatzter demokratischer Hoffnungen. Und Chinas wirtschaftlicher Erfolg widerlegt seit Jahren alle Thesen, dass Diktatur in die Armut führt.

Illiberale Erfolgsstrategie

Selbst in Ländern, in denen sich autoritär Regierende halbwegs freien Wahlen stellen, sind sie nur schwer zu besiegen. Haben sie einmal die Macht gewonnen, bauen sie die politischen und zivilgesellschaftlichen Institutionen auf eine Weise um, dass sie danach kaum noch von der Macht verdrängt werden können. Die Medien werden geknebelt, die Justiz politisiert, Oppositionelle drangsaliert und die öffentliche Meinung mit aggressivem Nationalismus und populistischen Versprechungen auf Linie gebracht. Die "illiberale Demokratie", wie Orbán sein Staatsmodell nennt, macht Wahlen allzu oft zur Farce.

Selbst die EU mit all ihren rechtsstaatlichen Prinzipien hält Orbán nicht auf; Erdoğan, den niemand bindet, kann noch weiter gehen: Er verbietet unliebsame Parteien und inhaftiert tausende Oppositionelle. Auch der indische Premier Narendra Modi, der Oppositionsführer Rahul Gandhi unter einem Vorwand einsperren lassen will, folgt diesem autoritär-nationalistischen Drehbuch und sichert sich damit laufende Wahlsiege. Diesen Weg will offenbar auch Tunesiens Staatschef Kais Saied einschlagen und damit die einzige Demokratie, die aus dem Arabischen Frühling hervorgegangen ist, zertrampeln. Allerdings ist es dort eher die Lethargie der Bevölkerung als Euphorie, die ihm das erlaubt.

In zwei bedeutenden Staaten ging die Rechnung der Möchtegern-Autokraten nicht auf. Aber die Niederlagen Donald Trumps in den USA 2020 gegen Joe Biden und Jair Bolsonaros in Brasilien 2022 gegen Lula wirken weniger als demokratische Leuchttürme denn als Sonderfälle. Und beide schmieden bereits Pläne für ihre Rückkehr an die Macht.

Wenn Autokraten lernen

"Es war eine der Illusionen der 1990er-Jahre, dass Demokratien die einzigen lernfähigen Systeme sind und Diktaturen automatisch wie die Sowjetunion enden", sagt Jan-Werner Müller, Politikwissenschafter an der Princeton University. "Auch autokratische Systeme können aus der Geschichte lernen." Zu diesen Lektionen gehöre, sagt der Experte für Populismus, "dass man keine Bilder produzieren soll, die zu sehr an die Diktaturen des 20. Jahrhunderts erinnern."

Autokraten wie Orbán würden mit Demonstranten oft relativ friedlich umgehen und etwa liberale Blogger zulassen, gleichzeitig aber möglichst viel Kontrolle über Medien erringen und die Polarisierung in der Gesellschaft vorantreiben. Regime würden sich auch gegenseitig Tricks abschauen, wenn etwa Nichtregierungsorganisationen zu ausländischen Agenten erklärt und damit diskreditiert werden. "Jede Wahl wird existenziell wichtig", sagt Müller. "Die Botschaft lautet: Wenn die andere Seite gewinnt, ist es mit unserem Land vorbei." Damit würden sie auch Wähler auf ihre Seite ziehen, die sich ihrer antidemokratischen Tendenzen durchaus bewusst sind.

Immer wieder sind es die Fehler der Opposition, die einen möglichen Machtwechsel vereiteln. Oft sind die Parteien und ihre Anführer zerstritten und kommen dann in einem mehrheitsfördernden Wahlsystem unter die wahlarithmetischen Räder. In Ungarn und der Türkei ist ihnen der Schulterschluss zwar gelungen, dafür entschieden sich die breiten Bündnisse aus taktischen Gründen nicht für die Spitzenkandidaten mit der größten Strahlkraft. Das wäre in Ungarn wohl der Bürgermeister von Budapest, Gergely Karácsony, und in der Türkei der Bürgermeister von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, gewesen. Und meist tragen die Gegner aus ihrer früheren Zeit an der Macht historischen Ballast mit sich, sind einem Teil der Bevölkerung als korrupt, abgehoben oder selbst autoritär in Erinnerung geblieben. Und oft fehlt der liberalen Opposition vor allem in ländlichen Gegenden die Infrastruktur und die Bereitschaft, von Tür zu Tür zu gehen und Wähler zu überzeugen, sagt Müller.

Zurück an die Macht

Wenn solchen Bündnissen der Sieg an der Urne gelingt, dann stürzen sie allzu oft über ihre eigene Zerstrittenheit und ebnen dem Autokraten den Weg zurück an die Macht. Das war in Sri Lanka der Fall, wo der Rajapaska-Clan nach einer Wahlniederlage an die politischen Schalthebel zurückkehrte – und erst im Vorjahr durch die vom Wirtschaftschaos ausgelösten Massenproteste gestürzt wurde. Ob dies auch das Schicksal von Benjamin Netanjahu sein wird, den ein inhomogenes Oppositionsbündnis nur 18 Monate vom Amtssitz des israelischen Premiers fernhielt, ist offen. Noch hält seine extrem rechte Regierung mit autoritären Tendenzen den wöchentlichen Massendemonstrationen für Demokratie und gegen die Justizreform stand.

Auch der schwindende globale Einfluss der USA sowie ihr Verlust an Glaubwürdigkeit unter Trump hätten demokratische Kräfte weltweit geschwächt, sagt Müller – ebenso die Tatsache, "dass die EU eine Autokratie unter ihren Mitgliedsstaaten duldet". Das wirkt sich auch auf Staaten wie Serbien aus, wo Präsident Aleksandar Vučić dem Model Orbán folgt und dennoch ein ernsthafter Beitrittskandidat bleibt.

Allerdings sollte man auch nicht in Defätismus verfallen, warnt Müller. "Es war falsch zu glauben, dass solche Regime von sich aus fallen, aber sie verfügen auch über kein Geheimwissen, um ewig an der Macht zu bleiben." Selbst Erdoğans Herrschaft könnte, wenn er die Wahl in einer Woche gewinnt, dennoch eines Tages ins Wanken geraten. (Eric Frey, 20.5.2023)