Die Falle schnappte am 24. Mai 1913 zu. Wochenlang waren drei Polizeiagenten im Wiener Hauptpostamt am Fleischmarkt auf der Lauer gelegen und hatten auf den Moment gewartet, an dem ein gewisser Herr Nikon Nizetas auftauchen würde, um seine Post abzuholen. Denn ein abgefangener Brief an diesen Unbekannten hatte die k. u. k. Spionageabwehr in Alarmbereitschaft versetzt: Der hohe Bargeldbetrag im Kuvert und der verdächtige Absender rochen förmlich nach Agententätigkeit.

In der Hoffnung, des ominösen Adressaten habhaft zu werden, war der Brief zur Abholung im Postamt deponiert worden. Als der Gesuchte nach Wochen des Wartens endlich auftauchte, lief zunächst alles nach Plan: Die Schalterbeamtin alarmierte die Polizisten wie vereinbart durch eine versteckte Klingel und versuchte, den Abholer in ein Gespräch zu verwickeln. Doch der machte sich schnell aus dem Staub – und schaffte es beinahe, seine Verfolger abzuschütteln.

Nikon Nizetas alias Alfred Redl (1864–1913) stieg bis in den Generalstab auf – und spionierte für Russland.
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Nach einer rasanten Flucht, manchen Berichten zufolge mit wechselnden Taxis, konnte Nizetas schließlich gestellt werden – im Hotel Klomser in der Herrengasse. An dieser Adresse in diesem Haus sollten sich übrigens, viele Jahrzehnte später, für lange Zeit die Redaktionsräumlichkeiten des STANDARD befinden. Zum Entsetzen der Beamten und schon bald der gesamten Donaumonarchie stand ihnen bei der Festnahme kein Unbekannter gegenüber: Nikon Nizetas entpuppte sich als Oberst Alfred Redl, Generalstabschef des 8. Korps in Prag und ehemaliger Vizechef des k. u. k. Geheimdienstes.

Ein Mann in dieser Position hatte Zugang zu den sensibelsten militärischen Informationen des Landes. Und genau das hatte Redl, wie sich herausstellen sollte, zu seinem persönlichen Vorteil genutzt: Über Jahre hinweg hatte er brisante Militärgeheimnisse an Russland verkauft, später auch an Italien und Frankreich. Der hochrangige Offizier finanzierte damit seinen luxuriösen Lebensstil und sponserte seine Liebhaber.

Beispielloser Verrat

"Gesichert ist, dass Redl mit seiner Spionagetätigkeit spätestens 1908 begonnen hat, und wir wissen auch ziemlich genau, was er an Russland verraten hat", sagt Verena Moritz. Die Historikerin hat den Fall akribisch aufgearbeitet und gemeinsam mit Hannes Leidinger die bislang jüngste umfangreiche Studie dazu vorgelegt ("Oberst Redl", Residenz, 2012).

Schlimmer hätte es für die k. u. k. Armee kaum kommen können: Redl verriet in der militärisch zunehmend angespannten Lage am Vorabend des Ersten Weltkriegs so gut wie alles, was für andere Mächte von Bedeutung sein konnte: Mobilisierungsanweisungen für den Kriegsfall, Truppenstärken, Inspektionsberichte. "Das waren unfassbar wichtige Geheimnisse, da ging es um die genauen Abläufe der Mobilisierung, die Aufstellung und Gliederung des k. u. k. Heeres", sagt Moritz.

Der Schock über den beispiellosen Verrat war in der Armeeführung groß, der Wunsch nach einer Vertuschung des unerhörten Skandals ebenso. Ein Prozess hätte nicht nur das schwindelerregende Ausmaß von Redls Spionage ans Licht der Öffentlichkeit gebracht, sondern auch Versäumnisse des Generalstabs. Dessen Chef Franz Conrad von Hötzendorf fürchtete nicht nur um das Ansehen des Militärs, sondern auch um seine eigene Karriere. Absolute Diskretion war die Devise.

Endstation Herrengasse

Noch in der Nacht auf den 25. Mai 1913 suchte eine vierköpfige "Verhaftungskommission" Redl in seinem Zimmer im Hotel Klomser auf. Der Spion soll die Offiziere schon erwartet und mit seinem Leben abgeschlossen haben, hieß es später. Die nächtliche Delegation überließ dem gefallenen Oberst einen Revolver, angeblich auf sein eindringliches Bitten hin, und zog sich zurück – Redl erschoss sich.

Im Hotel Klomser in der Wiener Herrengasse 19 wurde Redl im Mai 1913 gestellt und beging Suizid. Jahrzehnte später bezog hier die Standard-Redaktion ihren Sitz.
Foto: Sammlung Hubmann / Brandstätter

Doch unter den Teppich gekehrt war die Angelegenheit damit nicht. Während in Redls Wohnung in Prag neben allerhand Luxusgütern pornografische Fotografien von ihm und anderen Männern gefunden wurden, sorgten einige Presseberichte über den Suizid des Generalstabsoffiziers bereits für wilde Spekulationen.

Prager Investigation

Große Aufmerksamkeit erregte etwa ein junger Journalist aus Prag, der sich mit seinen investigativen (und nicht immer ganz faktenbasierten) Recherchen in dem Fall international einen Namen machte: Egon Erwin Kisch. Seine erste Veröffentlichung über den Skandal in der Tageszeitung "Bohemia" gelang durch einen Trick.

Um die behördliche Zensur zu umgehen, brachte er seinen Text in Form eines Dementis: "Von hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, dass der Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat militärischer Geheimnisse begangen und für Russland Spionage getrieben habe."

Lebemann mit Geldbedarf

Von wegen widerlegt, damit war das Gerücht erst recht in der Welt. Die Presse stürzte sich auf den Fall, täglich erschienen neue Artikel mit mehr oder weniger gesicherten Details über Redls Verrat und pikanten Schilderungen seines ausschweifenden Lebens. Schon bald wurde gemutmaßt, Redl sei aufgrund seiner Homosexualität durch Russland zum Geheimnisverrat erpresst worden – ein Gerücht, das sich bis heute hartnäckig hält.

Die Historikerin Moritz hält das für unwahrscheinlich. "Alles deutet darauf hin, dass er einfach unglaublich viel Geld brauchte, da er völlig über seine Verhältnisse lebte, obwohl er durchaus ein kapitales Einkommen hatte." Redl leistete sich Autos, Pferde und eine eigene Dienerschaft, gab Unmengen für Schmuck aus und noch mehr für seine Liebschaften, die er offenbar mit Geschenken an sich zu binden versuchte. "Er hat immer wieder Geldprobleme gehabt und war auch nicht darum verlegen, sich große Beträge zu leihen", sagt Moritz.

Spion Nummer 25

Denkbar wäre, dass seine Karriere als Spion mit einem großen Schuldenberg begonnen hat. Obwohl Redl zuletzt immer wagemutiger wurde und sich mit seinen Diensten weit aus dem Fenster lehnte, indem er etwa österreichische Spione in Russland auffliegen ließ, ging er äußerst professionell vor. Er fotografierte die geheimen Dokumente und entwickelte die Bilder selbst, nutzte für Übergaben tote Briefkästen, Verkleidungen und nichts ahnende Boten.

Vermutlich dürften auch die Russen bis zuletzt nicht gewusst haben, wer der österreichische Top-Spion eigentlich war, der in St. Petersburg schlicht als "Agent Nummer 25" geführt wurde. Noch nach Redls Enttarnung bezweifelte ein ehemals in Wien stationierter Militärattaché des Zarenreichs, dass das der Mann gewesen sei, dem dieser Schatz an Geheimnissen zu verdanken war.

Mythos Redl

Wie wirkten sich Redls Machenschaften aber letztlich auf dem Schlachtfeld aus, welche Auswirkungen hatten sie auf den Verlauf des Ersten Weltkriegs? "Das lässt sich meiner Meinung nach nicht seriös beantworten", sagt Moritz. "Wäre der Krieg schon 1913 ausgebrochen, hätte Redls Verrat aber wahrscheinlich vernichtende Auswirkungen gehabt."

Zwar konnten sich Russland, Italien und Frankreich auch 1914 noch auf wertvolle Informationen, etwa über Truppenstärken, stützen, allerdings hatte sich die strategische Lage da bereits stark verändert.

Der Name Alfred Redl war indes längst zu einem skandalumwitterten Mythos geworden, um den sich bis heute viele Halb- und Unwahrheiten ranken. Dabei hätte der spektakuläre Spionagefall gar keine Übertreibungen nötig, sagt Moritz. "Der Fall ist so reich an Kuriositäten und Absurditäten, das kann man sich fast nicht ausdenken." (David Rennert, 21.5.2023)