Eine Community auf der Suche nach Selbstbestimmung, lange bevor es Begriffe wie LGBTQI* gab: Nan Goldin (links) war ihre Chronistin.

Nan Goldin/ Polyfilm

Es ist eine Szene, bei deren Anblick man Gänsehaut bekommt: Unzählige Flugblätter regnen von der obersten Etage im Inneren des New Yorker Guggenheim Museum. Banner fordern den Boykott der Pharmadynastie Sackler, "Shame on Sackler" steht da. Pillendosen mit Oxycontin-Etiketten kullern über den Boden. Demonstrierende und Besucher rufen im Chor: "Say it loud, say it clear, Sacklers are not welcome here!"

Unter ihnen befindet sich auch Nan Goldin. Die berühmte Fotografin mit den wilden Locken kämpft seit Jahren gegen die schwerreiche Sackler-Familie, die als Gründer des Unternehmens Purdue Pharma mit dem Vertrieb des schwer abhängig machenden Schmerzmittels Oxycontin zu einer Opioidkrise in den USA beitrug. Jährlich sterben dort mehr als 100.000 Personen an einer Überdosis.

Nan Goldin selbst ist eine Überlebende. Nach einer Operation wurde sie süchtig und konnte nur durch einen Entzug von den Pillen loskommen. Heute ist die 69-Jährige eine zentrale Figur in diesem folgenreichen Widerstand, den sie mit der von ihr ins Leben gerufenen Gruppe P.A.I.N. bestreitet. Die Mitglieder sind selbst betroffen oder Angehörige Verstorbener.

Name Sackler entfernt

Durch hartnäckigen Protest konnten führende Kunsteinrichtungen in den USA und Europa dazu gebracht werden, keine weiteren Spendengelder in Millionenhöhe von den Sacklers anzunehmen. Institutionen wie der Pariser Louvre, die Londoner Tate Modern oder das Metropolitan Museum in New York entfernten in den letzten Jahren den Namen Sackler aus ihren Häusern. Erst dieser Tage kappte die Universität Oxford ihre Verbindungen.

All das ist eine Ebene der gelungenen Dokumentation All the Beauty and the Bloodshed von Laura Poitras, die 2022 den Goldenen Löwen der Filmfestspiele Venedig gewann und für die Oscars nominiert war. Zu Recht! Denn der zweistündige Film, den Goldin mit produzierte, verstrickt diese kämpferische Gegenwart der Künstlerin – samt emotionalen Momenten – mit ihrer bewegten Biografie.

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Goldin nutzte ihre Bekanntheit, wurde zur Aktivistin und erlebte zuletzt viel Aufmerksamkeit. Das Kunstmagazin Monopol kürte sie 2022 zur einflussreichsten Künstlerin der Welt, im Herbst widmet das Stedelijk Museum in Amsterdam ihren Filmarbeiten eine Soloshow. Der National Portrait Gallery in London drohte Goldin 2019, ihre eigene Ausstellung zurückzuziehen, wenn die Einrichtung Geld der Sacklers – oder, wie sie Goldin nennt, "corrupt evil bastards" – annehme. Die Institution verzichtete als erstes Museum auf die finanzielle Zuwendung des US-Pharmariesen. Bekannt wurde Goldin für ihre schonungslosen Fotos, die im New York der Achtzigerjahre entstanden und sie zu einer Ikone der Gegenwartskunst machten. Darin hielt sie das Privatleben ihrer Freunde und von sich selbst fest: beim Sex, beim Drogenkonsum, beim Feiern.

Diese intimen Porträts zeigten eine queere Community, die sich auf der Suche nach Selbstbestimmung und Freiheit befand, lange bevor Begriffe wie LGBTQI* existierten. Das Leben der "Queens", wie Goldin ihre Drag-Freunde liebevoll nannte, spielte sich in Privaträumen und Szenebars ab, wo Nan alles mit ihrer Kamera dokumentierte.

Ihre Slideshows, die die Künstlerin damals in Clubs mit Begleitmusik einem Happening gleich inszenierte, werden auch in Poitras Doku zwischendurch eingespielt. Zum Soundtrack von Lou Reed bis Kurt Weill formen sich Goldins Aufnahmen zu einem einzigartigen Porträt dieser New Yorker Subkultur.

Für ihre bekannteste Serie The Ballad of Sexual Dependency fotografierte sich Goldin unter anderem selbst, nachdem sie von ihrem damaligen Partner krankenhausreif geschlagen worden war. Später dokumentierte sie die furchtbaren Folgen der Aidskrise, die vielen ihrer Freunde das Leben kostete. Im Film spricht Goldin auch über Tabus, wie ihre damaligen Nebenjobs als Go-go-Tänzerin und Sexarbeiterin.

Hilfe beim Coming-out

Zur Fotografie kam sie durch ihren Jugendfreund und "Liebe ihres Lebens" David Armstrong, den Goldin mit 15 Jahren kennenlernte. "Er gab mir den Namen Nan und ich half ihm bei seinem Coming-out", erinnert sie sich. Gemeinsam mit Armstrong – der später auch Fotograf wurde, wenngleich nie so erfolgreich wie Goldin – begann sie zu fotografieren.

Eine schwierige Kindheit und der frühe Suizid ihrer Schwester Barbara machten Goldin zu einem introvertierten Teenager. Ab ihrem 14. Lebensjahr lebte sie bei Pflegefamilien. "Nach Barbaras Tod verlor ich meine Sprache. Das Fotografieren gab mir meine Stimme und Persönlichkeit zurück", erzählt Goldin mit ihrer verrauchten Stimme.

Die gesamte Doku über spricht die Fotografin nie direkt in die Kamera. Immer sind es die Fotos, die sie mit ihren Geschichten bestückt und zu einer Diashow komponiert – der Show ihres Lebens. (Katharina Rustler, 19.5.2023)