Bayern-Dompteur Thomas Tuchel musste leiden.

Foto: EPA/Anna Szilagyi

Besorgte Gesichter auf den Rängen. CEO Karl-Heinz Rummenigge, Ex-Bayern-Spieler Frank Ribery und Ehrenpräsident Uli Hoeneß.

Foto: IMAGO/ActionPictures

München – Oliver Kahn verschränkte die Arme hinter seinem breiten Rücken und schob die Brust nach vorne, doch sein ewiges "Weiter, immer weiter" klang nur noch hohl und leer. "Mein Glaube ist immer da", betonte der Vorstandsvorsitzende des FC Bayern nach einer weiteren Horror-Show im Titelkampf und ergänzte scheinbar unverdrossen: "Ich werde den Teufel tun und irgendwas abschenken."

Tatsächlich bekommt die deutsche Bundesliga ihr lang ersehntes Meisterfinale, doch der Seriensieger hält die Schale nicht mehr in der Hand. Vielmehr legten die Bayern, von ihrem wütenden Trainer Thomas Tuchel in alle Einzelteile zerlegt, ihrem Rivalen Dortmund den Ball mit dem ernüchternden 1:3 (1:0) gegen RB Leipzig auf den Elfmeterpunkt.

Bayern-Führung in Schockstarre

"Ich bin wirklich tief enttäuscht, dass wir diese Riesenchance weggegeben haben und jetzt von anderen Ergebnissen abhängig sind", sagte Kahn betroffen. Nach dem Schlusspfiff blickte er schockiert von der VIP-Tribüne auf den Rasen – wohl ahnend, dass seine Zeit als Boss zu Ende geht. Die Stadionregie spielte "I don't want to miss a thing" aus dem Streifen Armageddon – für Kahn und seine Bayern fühlte es sich auch an wie ein Weltuntergang.

Tuchel verfolgte die Schlussphase vollkommen konsterniert, ja resigniert auf der Bank und fand nur langsam zu sich. "Man weiß gar nicht, wo man anfangen soll", schimpfte er. Seine Stars hätten nach der Führung durch Serge Gnabry (25.) speziell in der zweiten Halbzeit "alles vermissen lassen" und den Sieg "selbst aus der Hand gegeben".

Polternder Tuchel

Tuchel war außer sich über die mangelnde Gegenwehr. "Der eine zieht den Kopf ein, der andere will den Gegner überlupfen. Du musst dein Verhalten anpassen! Das geht nicht!", polterte er bei Sky und rechnete gnadenlos mit seiner Mannschaft ab.

"Wenn du in New York über die Straße gehst", motzte er, "ist das was anderes, als wenn du hier in Bogenhausen über die Straße gehst." Es war ein treffendes, aus Sicht der Bayern erschütterndes Bild: Ein Bubi aus dem Münchner Nobelviertel, der sich in der Bronx verprügeln lässt. Tuchel: "Du musst dich anpassen – sonst wirst du überfahren."

Selbstkritisch gab sich Führungsspieler Joshua Kimmich und sprach nach der Niederlage von einem "Spiegelbild unserer Saison". "Das passiert uns viel zu oft in dieser Saison. Wir haben alles im Griff und brechen wieder mal weg. Wir stehen uns teilweise selbst im Weg. Wir machen viel zu viele Fehler. Wir kriegen die Tore nach einem eigenen Eckball und durch zwei Elfmeter, die mehr als unnötig sind", klagte der Mittelfeldspieler. Und Thomas Müller meinte: "Abgezockt sieht anders aus."

Sinnbildlich für den Frust bei den Bayern: Thomas Müller beinahe am Verzweifeln.
Foto: IMAGO/ActionPictures

Elfte Meisterschaft en suite in Gefahr

Tuchel könnte als der Trainer in die Geschichte des FC Bayern eingehen, der in gerade einmal zwei Monaten Amtszeit drei Titel mit dem Rekordmeister verspielt. Nach dem DFB-Pokal-K.o. gegen den SC Freiburg und dem Aus in der Champions League gegen Manchester City jeweils im Viertelfinale ist nach dem 1:3 am Samstagabend im Bundesliga-Topspiel gegen RB Leipzig auch die elfte Meisterschaft en suite in Gefahr.

Borussia Dortmund hat mit einem 3:0-Sieg am Sonntagabend beim FC Augsburg vor dem letzten Spieltag die Tabellenführung übernommen. "Wenn wir diese Titel jetzt alle verspielen und ich stehe an der Seitenlinie, bin ich verantwortlich. Ich nehme das dann auch sportlich mit auf meine Kappe, das ist ganz klar", sagte Tuchel am Samstag im ZDF-Sportstudio. "Natürlich trifft es uns hart, wenn es so kommt", sagte er zu einer womöglich ersten titellosen Saison des FC Bayern seit 2012. "Warten wir mal, ob es so kommt. Natürlich wäre das bitter."

Retter in Not

Tuchel war Ende März als Nachfolger von Julian Nagelsmann mit einem Vertrag bis zum 30. Juni 2025 engagiert worden, nicht zuletzt, um quasi die Saison zu retten. Die Bayern hätten "immer weniger erfolgreich und attraktiv gespielt, die starken Leistungsschwankungen haben unsere Ziele in dieser Saison infrage gestellt, aber auch über diese Saison hinaus. Deshalb haben wir jetzt reagiert", hatte Kahn die umstrittene Personalentscheidung gerechtfertigt.

Womöglich wäre es für den 49-Jährigen doch besser gewesen, nicht mitten in der Rückrunde und damit der entscheidenden Saisonphase in München anzufangen. "Es ist nicht immer ein Wunschkonzert. Mal gehen die Türen auf, wenn sie aufgehen", antwortete Tuchel auf die entsprechende Frage. "Die Verantwortlichen haben klargemacht, dass sie jetzt aufgeht", sagte er zur Anfrage der Bayern-Bosse. "Es geht auch nicht darum, um mich abzusichern oder vor der Verantwortung wegzulaufen", ergänzte Tuchel.

Ausgerechnet Laimer

Eingeleitet hat den Leipziger Sieg ausgerechnet Konrad Laimer, der bei einem Konter nach einem abgewehrten Münchner Eckball den Ausgleich zum 1:1 erzielte (65.). Seit Wochen wird kolportiert, dass der österreichische Teamspieler im Sommer von Leipzig nach München wechselt. Laimer deutete am Samstag diesen Schritt an. "Es weiß ja jeder. Mein Vertrag läuft aus im Sommer. Generell ist es hier schön", sagte Laimer auf dem Rasen der Münchner Arena beim TV-Sender Sky. Einen Wechsel ausschließen könne er "auf jeden Fall nicht".

Erfolgserlebnis für Konrad Laimer ausgerechnet in München.
Foto: IMAGO/Michael Weber

Der 25-jährige Mittelfeldmotor soll in München schon beide Medizinchecks absolviert und einen Kontrakt bis 2027 unterzeichnet haben. Laimer galt als absoluter Wunschspieler von Ex-Leipzig- und Bayern-Trainer Nagelsmann. Trotz dessen Freistellung bei den Bayern kommt er wohl nach München.

Die Klubs bleiben bei dem Thema aber verschlossen. "Er hat ein sehr gutes Spiel gemacht", sagte Bayern-Sportvorstand Hasan Salihamidzic. Man spreche nicht über Spieler, die bei anderen Klubs unter Vertrag stünden. "Er ist sicher ablösefrei ab dem 1.7.", sagte Salihamidzic. "Er hat ein wunderschönes Tor für RB Leipzig geschossen", sagte Leipzigs Sportchef Max Eberl. Es gehe für Leipzig und Bayern darum, Ergebnisse einzufahren. "Und dann werden wir nach der Saison sehen, was passiert", so Eberl. (APA, dpa, sid, red, 21.5.2023)