Daniele Gatti führte mit durchs Konzert.

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Wien – "Jugend ist Trunkenheit ohne Wein", hat Goethe einst in seinem Schenkenbuch festgestellt. Abgesehen davon, dass die Jugend auch der Trunkenheit durch Wein (oder anderem) nicht abgeneigt ist, hat der gute Geheimrat natürlich recht. Die Fähigkeit zur Euphorie, zur Berauschtheit durch äußere Einflüsse ist ihr auch nüchtern jederzeit gegeben.

Am Sonntagvormittag gastierte das Gustav Mahler Jugendorchester im Musikverein. In dem von Claudio Abbado gegründeten Klangkörper findet sich die Elite des Orchesternachwuchses aus zwei Dutzend Ländern Europas vereinigt; unter wechselnder, kundiger Führung wird sie hier in ihrem zukünftigen Aufgabenbereich, dem Hochpräzisionshandwerk des Musizierens im Kollektiv, geschult.

Zwiespältigkeit der jungen Jahre

Der aktuelle Schulungsleiter ist Daniele Gatti. Der 61-Jährige wird 2024 Christian Thielemann als Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle Dresden nachfolgen, und wie die Dirigate des Deutschen sind auch die des Italieners von höchster Präzision und Willensstärke geprägt. Und so wurde Mahlers erste Symphonie unter Gattis Leitung nicht nur zur Demonstration der enormen Fähigkeiten der jungen Künstler, sondern auch zur Demonstration der Domestizierungsfähigkeit des Dirigenten.

Unter dieser litten die Musizierenden weniger, das Werk jedoch etwas mehr. Die mit schläfriger Behutsamkeit eröffnete Erste entrollte sich als Abfolge ausgefeilter Kunstfertigkeiten, eine schöner als die andere: Auf ein schleierzartes Pianissimo folgten brachiale Tänze, auf fahle Nebelstimmungen gleißender Triumph. Doch zerfiel die Symphonie in Einzelepisoden, die sich nicht zu einem Ganzen runden wollten.

Die glühende, berauschende Leidenschaftlichkeit der Jugend kam beim Adagio der (als Fragment hinterlassenen) zehnten Symphonie des Namenspatrons des Orchesters zum Ausdruck. Der Liebe ist hier oft zartbitterer Schmerz beigemischt – eine Zwiespältigkeit, die man schon in jungen Jahren kennt. (Stefan Ender, 23.5.2023)