Vorsicht, diese Kinder sind bereit, aus Protest gegen die Elterngeneration sehr weit zu gehen.
Foto: Festival Cannes

Jessica Hausners Club Zero, heuer der einzige österreichische Beitrag in Cannes, ist gemeinsam mit Koreeda Hirokazus Monster und Nuri Bilge Ceylans About Dry Grasses eines von drei Schulszenarien im diesjährigen Wettbewerb um die goldene Palme. Club Zero ist der zweite englischsprachige Film der aus einer Künstlerfamilie stammenden Wienerin, ihr sechster Langfilm insgesamt. Schon mit ihren ersten zwei Filmen Lovely Rita (2001) und dem Experimentalhorror Hotel (2004) wurde Hausner in die Cannes-Nebensektion Un Certain Regard eingeladen. Nachdem letzterer lau rezipiert wurde, verordnete Hausner sich eine Pause und stellte ihre Filmvorlieben auf den Prüfstand – Jacques Tati und Catherine Breillat, die mit ihrem neuen Film Last Summer heuer eine direkte Konkurrentin ist, zählen zu ihren bleibenden Inspirationen.

Da ist es kein Zufall, dass sie mit dem französischsprachigen Lourdes fünf Jahre später zurück auf die große Leinwand fand. Mit dem Kleist-Drama Amour Fou – übrigens mit Christian Friedel, der heuer im favorisierten KZ-Experimentaldrama The Zone of Interest von Jonathan Glazer den Auschwitz-Kommandanten Rudolf Höss spielt – war Hausner 2014 auch wieder zurück in Cannes. Doch der Einzug in den Wettbewerb gelang ihr erst fünf Jahre später mit ihrem englischsprachigen Debüt Little Joe, für den Hauptdarstellerin Emily Beecham den Darstellerinnenpreis erhielt.

Erdtöne: Farben und Formen spielen bei Hausner eine ebenso wichtige Rolle wie das Kostümdesign, für das ihre Schwester Tanja Hausner zuständig ist.
Foto: Festival Cannes

Farben, Formen und Zwänge

Farben und Formen spielen bei Hausner eine ebenso wichtige Rolle wie das Kostümdesign, für das ihre Schwester Tanja Hausner zuständig ist. Doch während in Little Joe kräftiges Rot und Blau dominiert, sind Erdfarben und helle Grüntöne die Stars in Hausners Neuling Club Zero. Ob das daran liegt, dass einige der porträtierten Jugendlichen aus ökologischen Bedenken ihr Essverhalten ändern wollen?

"Conscious Eating", "Bewusst Essen" heißt das neue Schulfach, das an der internationalen Eliteschule in England auf Wunsch der Eltern angeboten wird. Akquiriert wurde hierfür Miss Novak, eine junge Ernährungsexpertin, die sich ihrem Fach mit Leidenschaft widmet. Zwischen Om-Gesängen, Abnehmtee der Eigenmarke und Selbsthilfegesprächen lässt sich ein Teil der Gruppe in Miss Novaks radikale Ernährungslehre einspinnen, ein anderer ergreift bald die Flucht.

Hausner erzählt die beklemmende Geschichte der schrittweisen Nahrungsentsagung entlang der Jugendlichen und ihrer Familien, allerdings ohne sie zu Identifikationsfiguren zu machen. Da ist Fred, der von seinen in Afrika arbeitenden Eltern im Internat zurückgelassen wurde, weil er so ganz anders ist als diese. Oder Ragna, die Trampolinspringerin, die wegen ihres Sports den Druck verspürt, abnehmen zu müssen. Elsa wiederum hat die bulimische Essstörung von ihrer Mutter (Elsa Zylberstein) "geerbt", die sich nun als stille Komplizin beim Fasten herausstellt.

The Upcoming

Miss Novaks Abnehmtee

Aus der wohlhabenden Reihe tanzt nur Ben, ein Schüler aus der unteren Mittelklasse, der gute Noten schreiben muss, um weiterhin als Stipendiat an der Eliteschule bleiben zu dürfen. Seiner herzlichen Mutter bricht es das Herz, als ihr Sohn ihre liebevoll zubereiteten Gerichte plötzlich verweigert.

Befremdlich ist von Beginn an Miss Novak, mit fieser Autorität von Mia Wasikowska verkörpert. Die glamourös-komische Schulleiterin (Sidse Babett Knudsen aus Borgen) lässt sie walten und löffelt sich selbst eifrig Zucker in den Diättee. Hausner inszeniert in gewohnt distanzierenden, durchkomponierten Bildern mit Liebe zum designten Detail, während der Percussion- und Gesangssoundtrack die Spannung hält und Gesellschaftshorror – etwas offensiver als Tati – mit Humor versetzt.

Jessica Hausner mit Luke Barker (Fred) und Mia Wasikowska (Miss Novak).
Foto: APA/AFP/LOIC VENANCE

Palmenchancen? Unter Östlund gut!

Eine formalistische Kunstkinosatire auf die Nahrungszwänge der Bessergestellten lässt Hausner in Cannes um die Goldpalme ringen. Das könnte genau den Geschmack der Jury unter dem Schweden Ruben Östlund (Triangle of Sadness) treffen, gerade weil der Film ein hochgradig ambivalentes, rätselhaftes Ende findet.

Trotz Satire und typisierter, auf Distanz bleibender Figuren hat sich auch ein Funke emotionale Tiefe in Club Zero geschlichen, nämlich dann, wenn er den gefährlichen Konkurrenzdruck einer geteilten Essstörung erfahrbar macht und die Ratlosigkeit von Eltern, deren Kinder in selbstzerstörerisches Verhalten abdriften, ernst nimmt. (Valerie Dirk aus Cannes, 23.5.2023)