Andrea Vilter übernimmt ab Herbst als geschäftsführende Intendantin die Leitung des Grazer Schauspielhauses.

Foto: Marija Kanizaj

Es ist keine geringe Ansage: Das Schauspielhaus Graz eröffnet die kommende Spielzeit mit einem bis dato ungespielten bürgerlichen Trauerspiel einer unentdeckten deutschen Schriftstellerin. Neue Stücke braucht das Theater und neue Blickwinkel. Christiane Karoline Schlegel (1739–1833) liefert beides. Dieser Auftakt steht idealtypisch für die Pläne von Andrea Vilter, die als designierte Intendantin des Schauspielhauses den Dramenkanon zu erweitern gedenkt und Perspektiven einen Platz einräumt, die über Jahrhunderte verdrängt wurden.

Die 1966 in Köln geborene Dramaturgin und Theaterwissenschafterin – sie folgt ab Herbst auf Iris Laufenberg – tritt diesen Job in einer Zeit an, in der das Erforschen und Überprüfen alter Gewohnheiten am Theater mehr denn je entscheidend ist. Genau dafür schöpft Vilter aus ihrer bisherigen beruflichen Doppelachse als Universitätslehrende sowie auch als Praktikerin am Theater, die sie seit 1993 an verschiedenen Häusern in Deutschland und Österreich (Burgtheater, Salzburger Festspiele) ist. Wie ist sie überhaupt auf Christiane Karoline Schlegel gekommen? Recherche! Der literaturwissenschaftliche Background war hilfreich. "So etwas fällt einem nicht vor die Füße. Da muss man suchen", sagt sie im STANDARD-Gespräch.

Maria Lazar, Suzie Miller

Die seit einigen Jahren mit neuem Elan geführte Kanondebatte ist das eine; vergessene Autorinnen und Autoren aber tatsächlich ausfindig zu machen und sie dann am Theater zu realisieren das andere. Andrea Vilter hat es sich nun gezielt zur Aufgabe gemacht, die Forschung ins Theater zu holen. Auch ein unbekanntes Stück von Maria Lazar, die seit 2019 am Burgtheater wiederentdeckt wird, steht auf dem Spielplan: Der Nebel von Dybern. Oder das MeToo-Gerichtsdrama Prima Facie von Suzie Miller. Des weiteren Elfriede Jelineks Klimadoppel Sonne/Luft in Kooperation mit dem Festival Steirischer Herbst, ein neu kommentiertes Leonce und Lena-Drama von Georg Büchner, eine von Peter Handke inspirierte Bühnenbeschimpfung von Sivan Ben Yishai, eine Hommage an Werner Schwab, Nestroys Der Zerrissene oder die steirische Vampirkomödie Carmilla des Iren Sheridan Le Fanu.

Andrea Vilter möchte auch außereuropäischen Perspektiven Platz einräumen: Dies hat sie sich für die darauffolgende Spielzeit vorgenommen, für die erste war es offenkundig noch nicht zu realisieren – man wird sehen. Vielfalt drückt sich auch im 22-köpfigen Ensemble aus, zu dem neben Marthaler-Schauspielerin Olivia Grigolli auch heimische Neuzugänge wie Tim Breyvogel vom Landestheater Niederösterreich oder Sebastian Schindegger vom Schauspielhaus Wien gehören; weiters Otiti Engelhardt, Anna Klimovitskaya, Marielle Layher, Željko Marović oder Mervan Ürkmez, um nur einige zu nennen.

Andrea Vilter scheint alles richtig zu machen: Sie vereint Weitblick und Vor-Ort-Liebe; sie ist fähig (und hat es bereits als Schauspielleiterin in Wiesbaden bewiesen), strukturelle Änderungen umzusetzen, etwa Fair Pay; sie hat trotz eines eklatanten Fachkräftemangels, den sie als Bedrohung einstuft, ein gut aufgestelltes Team und wird künstlerisch avancierte Kräfte nach Graz holen, darunter Regisseure wie David Bösch, Emre Akal oder Matthias Rippert, Regisseurinnen wie Anne Lenk, Schirin Khodadadian, Ewelina Marciniak oder Rebekka David. Dabei hat Iris Laufenberg trotz Pandemie die Latte hoch gelegt.

Digitale Offensive

Ruhig und entschlossen geht Vilter nun Schritt für Schritt und hat sich im Getöse um Publikumsschwund ein Wunschziel gesetzt: "Ich würde gern den momentanen postpandemischen Schwung nach oben mitnehmen und bei diesen knapp 70 Prozent, wo wir derzeit liegen, einsteigen. Es wäre schon ein Erfolg, keinen Einbruch zu erleben." Was bei einem Intendanzwechsel bekanntlich wegen fehlenden Vorschussvertrauens und des Entzugs gewohnter Gesichter oft der Fall ist.

Eine Offensive in puncto Digitalität startet die neue Schauspielhausleiterin ebenso. Auch dafür war Vilters Nähe zur Universität ausschlaggebend, zumal unter Studierenden das Interesse für neue Medien und Formate groß ist. "Ich selbst habe anfangs gefremdelt", so Vilter. "Aber genau deshalb lag mir ein Forschungsschwerpunkt am Herzen." Die kleinste Spielstätte des Hauses, ab nun Konsole genannt, ist dem "digilogen" (digital-analogen) Theater vorbehalten und wird vom Schweizer Duo F. Wiesel als Artist in Residence bespielt. Damit soll sich auch ein junges Publikum angesprochen fühlen. Im Frühling folgt ein entsprechendes Festival mit dem schönen Namen Digithalia.

Andrea Vilter hat nun alle Hände voll zu tun, das neue Schauspielhaus anzupreisen. Und auch da hat sie klare Sicht, wenn sie das Publikum als Teil des Theaters begreift. "Es ist nicht Theater, und dann kommt noch das Publikum dazu, sondern dieses ist integraler Bestandteil." Es wird nicht einfach sein, unbekannte Namen und Werke wie die Eröffnungsproduktion (22. 9.) von Christiane Karoline Schlegel – sie heißt übrigens Von einem Frauenzimmer – einzuführen, aber da setzt Vilter auf die Botschaft "Don’t judge a book by its cover": also nur keine voreiligen Schlüsse ziehen. Hier tritt eine Person mit entwaffnender Besonnenheit ihr Amt an. (Margarete Affenzeller, 23.5.2023)