"Der Inbegriff K. (Kunst) ist ein graduiertes Glas. Jede Zeit gießt ein bestimmtes Quantum hinein, z. B. eine fünf cm von Parfüm ,Cotty', um die Nasenlöcher der feinen Leute zu kitzeln. Eine andere zehn cm Schwefelsäure ins Gesicht der herrschenden Klasse . . ." So beschreibt der Konstruktivist El Lissitzky Mitte der Zwanzigerjahre ein Prinzip, das spätestens durch die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts zum ästhetischen Kriterium wurde: die Relokation von Kunstbegriff und Kunstfeld durch die Überschreitung seiner Grenzen.

Jeder ein Künstler

Diese Verschiebung des Kunstbegriffs hat sich in einer schnellen Aufeinanderfolge der Kunstpraxen seit 1900 immer weiter beschleunigt: Nach Duchamp und Dada, Konstruktivismus und Produktionskunst brachte die zweite Hälfte des Jahrhunderts einen nie abreißenden Schwung an immer neuen Zumutungen für die Ausdehnung des Kunstbegriffs vom Situationismus über die Konzeptkunst bis zur Interventionskunst der 90er-Jahre, die ihre Praxis gleichermaßen aus dem Kunstfeld wie aus der Soziokultur der 70er und 80er entwickelte.
Irgendwann waren wir dann alle KünstlerInnen. Oder wurden wenigstens daran erinnert, als die Ideenvielfalt von Bildern und Sprachen auf den Kundgebungen und Demos der letzten Monate gleichsam explodierte. Vor allem die "Menge auf dem Weg" entbehrte alle Anzeichen von Homogenität und verkörperte genau jene sympathische Unkontrollierbarkeit. Ganz in diesem Sinn hat Marlene Streeruwitz in einem STANDARD-Kommentar (20. 3.) die Philosophie des Demo-Wanderns als antirassistische Gangart beschrieben. "Jeder und jede ist gezwungen, eine eigene Sprache zu entwickeln. Jeder und jede muss dabei vorgehen wie ein Künstler oder eine Künstlerin."

Besteht also die Differenz zwischen der Zeit vor und nach der Bildung der Regierung vielleicht in der zumindest temporären Konkretisierung des Beuysschen Imperativs? Alle Menschen werden Künstler als Effekt von Haider-Schüssel? Ist das jetzt die Kehrseite der viel bejammerten Ästhetisierung und Kulturalisierung des Politischen?

Jein. Dass der Widerstand im Subjekt liegt, das stimmt, und es stimmt nicht. Es ist nur die eine Seite des Widerstands, die andere betrifft die Organisation der Gesellschaft und damit deren Strukturen, also auch die Infrastrukturen der so genannten Zivilgesellschaft. Random Society reicht nicht, es braucht auch flexible Formen, in denen widerständige Inhalte Platz finden.

Solche Formen finden sich auch und gerade im kulturellen Feld, wo vielfältige Initiativen einen stetig wachsenden "dritten kulturellen Sektor" neben Repräsentationskultur und Kulturindustrie bilden: Kulturinitiativen (vom lokalen Kulturverein bis zum etablierten soziokulturellen Zentrum), freie Theatergruppen, Kollektive aus der bildenden Kunst zwischen konkreter Intervention und Public Art, immer mehr freie Medieninitiativen (von den "alten" Medien Print und Radio bis zu Initiativen der Netzkultur).


Kampffeld "Sektor 3"

Der dritte kulturelle Sektor, diese aus der ökonomischen Theorie zum Dritten Sektor ausgeliehene Bezeichnung eines völlig heterogenen zivilgesellschaftlichen "Sektors" im kulturellen Feld, mutiert nun im Schatten seines größeren Bruders "Zivilgesellschaft" zum Kampfbegriff. Einerseits haben aufgrund der Zuspitzung der politischen Situation immer mehr Initiativen klare Positionen bezogen und ihre Funktionen der Herstellung und Nutzung öffentlichen Raums redefiniert, so z. B. die politischen Aktionen aus dem Kunstfeld von "performing resistance" und "gettoattack" oder die Freien Radios in ganz Österreich oder die realen Diskussionsräume der Kulturinitiativen zwischen Feldkirch und Oberwart. Andererseits wird von rechter Seite der Definitionskampf über sowohl den Kunst-als auch den Kulturbegriff verschärft, der die Spaltung in eine "politische" ("schlechte") und eine "unpolitische" ("gute") Kultur nahe legt: In Lissitzkys Glas möge jedenfalls nur mehr die passen, die nicht einmal die Nase der feinen Leute kitzelt.

Oppositionelle Positionen werden gleichzeitig massiv angegriffen. So z. B. der oberösterreichische Kulturverein "Kanal" wegen seiner virtuellen Gastfreundschaft für die Protest-Webpage "gegenschwarzblau". Oder Radio Orange, als "Demoradio" diffamiert, weil es im Gegensatz zum ORF auch Minderheitenmeinungen und Hintergrundberichte über Demos bringen darf. Oder die aktivistische Künstlergruppe "Wochenklausur", vielfach vereinfachend als Stellvertreterin für die heterogene Szene aktivistischer Kunst verstanden, jetzt ebenso stellvertretend angegriffen. Wer meint, dass die Hand, die einen füttert, nicht gebissen werden darf (Aschermittwochrede), der will die oppositionelle Funktion von kulturellen Projekten nicht verstehen wollen. Wenn Freie Radios als unfrei, weil subventioniert denunziert werden, diejenigen, die das Netz kreativ nutzen, als Internetgeneration diffamiert, dann wird eine Dialektik zerschlagen, die genauso schwierig wie konstituierend ist für das Verhältnis Staat - Kultur: Egal, ob Parfüm oder Schwefelsäure, zumindest das Glas, also die Strukturen muss der Staat finanzieren, ob der Inhalt ihm nun passt oder nicht.

Während inzwischen die FPÖ ihren Kulturkampf auf symbolischer wie materieller Ebene immer aggressiver forciert (in Überbietung von Hans Jörg Schimaneks Motto: "Wir sind für die Freiheit der Kunst, aber das ist keine Kunst"), als brutale Vorkämpferin der Volkskultur das Bad mit dem Kinde ausschüttet, resp. das ganze Glas in den Gully, wird die ÖVP-Strategie auf der Ebene der Subventionspolitik sichtbar, wo es als Vorbedingung der Entscheidung über Qualitätskriterien und Qualität vorerst in den jeweiligen Förderbereichen zur In- oder Exklusion kommt.

Das Glas ist voll

Die spannendste Frage an die ÖVP-Kultur-Verantwortlichen und vor allem an Franz Morak lautet also: Will er sich als pflichtbewusster Sekundär-Exekutor des FP-Kulturkampfes erweisen und dementsprechend löwenhaft vor die Kunst des 19. Jahrhunderts stellen, während er die des 21. an die Wirtschaft verweist? Oder wird er gerade im Befreiungsschlag aus der rassistischen Geiselhaft versuchen zu verstehen, dass das Glas nie voll sein kann?

Gerald Raunig ist Philosoph und Vorstand der IG Kultur Österreich, die von heute, Freitag, bis Sonntag in Wien eine Konferenz zu den zivilgesellschaftlichen Facetten des kulturellen Felds veranstaltet: "sektor3/kultur" im WUK/ Kunsthalle Exnergasse. Infos unter 01/5037120 und http:// www.igkultur.at/konferenz
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