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Foto: Archiv
Rudolf Taschner, der heuer zum Wissenschafter des Jahres gekürt wurde, ist Mathematiker und Professor an der TU Wien. Daneben unterrichtet er am Theresianum, führt im "Prückel" ein Café philosophique und ist die treibende Kraft hinter math.space, einer ziemlich einmaligen Einrichtung, wo inmitten der Ausstellungsräume und Szenelokale des Museumsquartiers in einer weiß getünchten Dachstube über Mathematik vorgetragen wird. Der Ort allein schon ist ein Manifest, denn Taschners Credo lautet, dass die Mathematik Teil der Kultur und Lebensart ist.

Wenn Sie das nicht recht glauben wollen, so schauen Sie doch in math.space vorbei! Am besten, wenn Taschner selbst aufkocht. Oder Sie nehmen sein Buch zur Hand: Der Zahlen gigantische Schatten. Als Erstes wird Ihnen die opulente Ausstattung auffallen; als Zweites des Taschners gigantische Suada; und schließlich werden Sie merken, dass sich das Buch nicht leicht aus der Hand legen lässt. Es bietet Wellness für den Kopf.

Ein scharfzüngiger Journalist hat Rudolf Taschner einmal als den Marcel Prawy der Mathematik bezeichnet. Wie einst Prawy ist auch Taschner ein begnadeter Vermittler, von seiner Sache so erfüllt, dass er gar nicht anders kann, als die Zuhörer mit seiner Begeisterung anzustecken. Weder Prawys Passion, die klassische Oper, noch höhere Mathematik gelten landläufig als Quotenrenner, aber Taschner nimmt das ebenso wenig zur Kenntnis wie Prawy es tat und wie dieser verführt er, weil er selbst Verführter ist, der von seiner Leidenschaft nicht ablassen kann. Wie Prawy gehört auch Taschner zum Bildungsbürgertum bester Wiener Tradition und bringt wie dieser doch etwas unvergleichlich Originelles zusammen. Taschners Buch fasst die Vorträge zusammen, die er im ersten Jahr von math.space hielt: von Pythagoras zur Quantenmechanik, von der Harmonielehre zu Kurt Gödel, mit kleineren Ausritten zu Pascal und Hugo von Hofmannsthal. Kein Satz ist unrund oder überfrachtet, der Stil präzise und locker zugleich. Zu einem großen Teil scheint der Inhalt aus geistigen Naschereien zu bestehen.

So wird etwa ganz nebenbei gezeigt, wie die Alten das Produkt von zwei Zahlen bildeten, indem sie die eine, so oft es geht, halbieren und die andere verdoppeln. Für jeden, der glaubt, in der Volksschule alles übers Multiplizieren gelernt zu haben, ist das ein kurioses Erlebnis. Ausführlich räsoniert Taschner über das triadische Zahlensystem, das nicht auf den zehn Ziffern beruht, mit denen wir rechnen, oder auf den zwei Ziffern Null und Eins, mit denen Computer es tun, sondern auf drei Ziffern. Dabei bringt er uns beinahe so weit, Leibniz zu verargen, das triadische System seinerzeit nicht eingeführt zu haben. So geht es gänzlich mühelos dahin, und plötzlich bemerkt man, dass Taschner gerade das Halte-Problem erklärt hat, ein zentrales Element in den Überlegungen von Turing und Gödel zur Grundlegung der Mathematik.

In Taschners Buch kommen viele Rechnungen vor, aber keinerlei Formeln: Den Schritt vom Zahlen- zum Buchstabenrechnen, den die meisten von uns mit vierzehn in der Schule lernten, versagt sich der Autor. Dahinter steckt ein geradezu künstlerischer Gestaltungswillen. Mehr noch, Taschner bringt nichts über Zahlentheorie, etwa die Verteilung der Primzahlen, Fermats letzten Satz und ähnlich bewährte Renner in der reichhaltigen mathematischen Populärliteratur. Hier hat ein Mathematiker ein Buch über Zahlen geschrieben, aber dabei die Mathematik auf raffinierte Weise umgangen. Dadurch kann Taschner die Rolle der Zahlen in der Kulturgeschichte umso eindringlicher vermitteln.

Die fixe Idee des Pythagoras - alles ist Zahl - ist zur fixen Idee der Menschheit geworden. Unser Sinn für Zahlen kann stärker sein als unsere Sinne, und wir rücken lieber die realen Verhältnisse zurecht als zuzulassen, dass ein Kalkül nicht ganz aufgeht. Um nur drei von Taschners Beispielen zu erwähnen: Erstens, wir hören Musikintervalle rein ertönen, auch wenn sie ein wenig verstimmt sind, das verbirgt sich hinter der "temperierten Stimmung" des Klaviers. Zweitens, die Völker passen ihre Kalender nur ungern dem Uhrwerk der Gestirne an und möchten auf die altgewohnte Periodizität nicht verzichten, obwohl es weit sinnvollere Einteilungen gäbe. Drittens, am Ursprung der modernen Physik steht die feste Überzeugung eines Schweizer Rechenlehrers, dass die Verhältnisse von Wellenzahlen des Wasserstoffspektrums durch einfache Brüche gegeben sein müssen. Dieser Aberglaube des Johann Balmer führte geradewegs zur Quantenmechanik Niels Bohrs. Man weiß nicht, was sonderbarer ist, - dass die Zahlen unser Denken so mächtig bestimmen, oder dass dieses Denken so gut funktioniert. Taschner vermittelt uns eine Ahnung vom Staunen, das Pythagoras erfasst haben muss. (Karl Sigmund/DER STANDARD, Print-Ausgabe, 23./24. 4. 2005)