Je offener das Land zu werden vorgibt, umso heimlicher wird agiert. Die sechste Rede des russischen Präsidenten Wladimir Putin zur Lage der Nation wurde ausschließlich im Kreml konzipiert, zum ersten Mal bekam nicht einmal der Premier Einblick. Einzig von einer wirtschaftspolitischen Bombe berichtete die Gerüchteküche. Sie platzte nicht, generell waren die Akzente schwer auszumachen.

Gerade an die Adresse seiner internationalen Kritiker gerichtet, nannte der Kremlchef als wichtigste politisch- ideologische Aufgabe "die Entwicklung des Landes als eines freien demokratischen Staates" und bemühte die europäischen Werte. Dabei betonte er jedoch abermals, dass Russland seine eigene Form der Demokratie entwickle.

Diese weicht gerade in den letzten Jahren wesentlich von den westeuropäischen Prämissen der Gewaltenteilung, der Rechtsstaatlichkeit und des medialen Meinungsplura 3. Spalte lismus ab – eine Kritik daran will Putin nicht gelten lassen. Sein Land werde entscheiden, wie seine Demokratie sich entwickle. "Russland wird selbst über Tempo, Art und Bedingungen auf dem Weg zur Demokratie entscheiden." Die wichtigste Vorgabe sei, einen "effizienten Staat" zu bauen.

Als Reverenz vor den Veteranen im heurigen Jubiläumsjahr bezeichnete er gleich zu Beginn den Fall der Sowjetunion als "größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts". Bemerkenswert, dass er erstmals die Epoche seines Vorgängers Boris Jelzin, konkret etwa den Friedensvertrag mit Tschetschenien 1996, finanziell und sozial als einzige Niedergangsperiode vorführte, an die sich Putins Zeit der Stabilisierung anschloss. So sei seine Mannschaft in den letzten fünf Jahren gezwungen gewesen, "das Problem der Degradierung der staatlichen Institutionen zu lösen". "Anstelle eines Durchbruchs können wir Stagnation erhalten", warnte Putin und attackierte vehement einen Teil der Beamtenschaft als "geschlossene Kaste", die fernab von den Bürgern nur in die eigene Tasche wirtschafte.

Neben Demokratiedefiziten laboriert Putins Russland besonders am fehlenden Zusammenwirken von Staatsmacht und Wirtschaft, zu dessen Inbegriff die Causa Yukos geworden ist. Putin gestand ein, dass Unternehmer von staatlichen Organen mitunter erpresst werden. Umso mehr betonte er die Schaffung eines investitionsfreundlichen Klimas. Wie als Epilog zur Causa Yukos klang Putins Forderung, dass Steuernachforderungen die Unternehmer nicht in den Ruin treiben dürfen und die Anfechtungsfrist bei Privatisierungsdeals von zehn auf drei Jahre herabgesetzt werden müsse.

Wie Andrej Piontkovski vom Zentrum für strategische Studien gegenüber dem Standard kommentierte, sei Putins Rede eine "offene Heuchelei". Putin fordere all das, wogegen er seit fünf Jahren arbeitet. (DER STANDARD, Printausgabe, 26.4.2005)