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Ariel Muzicant bei der Grundsteinlegung zur Synagoge in Baden - der sechsten Wiedererrichtung nach 1945. Es waren einmal 79 ... (im Hintergrund Andreas Khol und Erwin Pröll).

Foto: AP
Die Republik hat sich in den letzten Jahren sehr um ein Klima der Versöhnung bemüht, von echter "Normalität" sind wir aber noch weit entfernt.

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In Österreich brennen keine Synagogen. Physische Übergriffe gegen Juden wie in Frankreich, Belgien oder anderen europäischen Ländern kommen zwar vor, aber seltener. Die NS-Verbotsgesetze haben Neonazis vertrieben oder ihre Tätigkeit massiv eingeschränkt. Der Antisemitismus in der österreichischen Bevölkerung hat in den letzten 60 Jahren stetig abgenommen.

Die Maßnahmen der Republik in den letzten zwölf Jahren (Reden Vranitzkys zu historischer Verantwortung Österreichs, der Nationalfonds, das Kunstrückstellungsgesetz, Mauerbach, die Historikerkommission, Entschädigungs-und Versöhnungsfonds, Schüssels Abkommen von Washington usw.) hatten ein Klima der Versöhnung zumindest bei einer Mehrheit der Opfer zur Folge. Und dennoch: Von "normalen Verhältnissen" sind wir, was die Beziehung zwischen Juden und Österreich betrifft, noch sehr weit entfernt.

Dazu ein Vergleich: Vor dem Krieg gab es 350.000 Juden und 104 Synagogen in Deutschland, 200.000 Juden und 79 Synagogen in Österreich. 1946 betrug die Anzahl der Juden in Österreich ca. 25.000, Synagogen und Kultusgemeinden waren zerstört. Heute leben wieder 170.000 Juden in Deutschland, 80 Gemeinden mit 84 Synagogen wurden wieder aufgebaut.

Brüchige Fassade

Kanzler Helmut Kohl sagte einmal: "Normalität zwischen Juden und Deutschen wird es geben, wenn Juden wieder nach Deutschland einwandern." Und er hat ein Programm beschlossen, das genau dies möglich machte. Zugleich wurde von Anfang an im neuen Deutschland die Verantwortung für die Schoah ohne Wenn und Aber übernommen. Sager wie jene von von Kampl oder Gudenus hätten die betreffenden Herren in unserem Nachbarland innerhalb von Minuten alle Ämter gekostet, Waldheim, Peter & Co wären in Deutschland nie gewählt worden.

In Österreich gehen die Uhren bekanntlich anders: Heute leben in Österreich ca. 15.000 Juden, um 10.000 weniger als 1946. Es wurden fünf Synagogen und fünf der ehemals 34 Kultusgemeinden wiedererrichtet. (In Baden werden wir heuer die sechste Synagoge wiedereröffnen.) Junge Juden verlassen Österreich, weil die Gemeinden zu klein geworden sind, es schwieriger wird, einen jüdischen Partner bzw. ein jüdische Partnerin zu finden. In den Achtzigerjahren führten die politischen Entwicklungen, die für viele unerträglich wurden, zur Auswanderung aus Österreich.

Das Verhältnis zwischen den Juden und ihrer Umwelt leidet aber insbesondere an der Tatsache, dass die Vergangenheit nur oberflächlich aufgearbeitet wurde. Die immer wiederkommenden "braunen Sager", die absurde Defensivposition vieler Österreicher ("das erste Opfer Hitlers"), das Verschließen der Augen vor historischen Realitäten behindern noch immer gesunde und offene Beziehungen zwischen Juden und Nichtjuden in diesem Land. Wie viele Österreicher anerkennen, dass ein Drittel oder mehr Österreicher in der einen oder anderen Form Nazis waren oder mit dem NS-Regime sympathisiert haben? Dass mehr Österreicher in NS-Verbrechen verwickelt waren als Angehörige der anderen Völker unter dem Nazi-Joch? Dass 500.000 Österreicher direkt oder indirekt Nutznießer der Arisierungen waren und dass der österreichische Anteil am Widerstand (sieht man von den Kärntner Slowenen ab) im Vergleich zu den Tschechen, Polen, Russen usw. deutlich geringer war?

Gemischte Gefühle

Warum werden diese Dinge nicht einfach gesagt? Warum haben so viele Österreicher Hemmungen, das Wort "Jude" auszusprechen? Warum wissen in Österreich so wenige, dass Aussprüche wie "durch den Rost fallen" und "bis zur Vergasung" Nazidiktion waren und sich auf die Vergasung und Vernichtung der Juden bezogen? Warum haben deutsche Politiker trotz Massenarbeitslosigkeit und Budgetproblemen 150.000 Juden ins Land holen können, ohne sich vor den dumpfen Gesinnungstätern an ihren Biertischen zu fürchten?

In Österreich wird es, wenn es so weitergeht wie bisher, in 20 Jahren keine jüdische Gemeinde mehr geben! Nun mache ich mir keine Illusionen: Nicht wenigen in diesem Lande ist dies wahrscheinlich keine unangenehme Vision. Ich frage mich aber - und mit diesen Zeilen auch die Leser: Sind diese Ewiggestrigen die maßgebende Kraft in diesem Land?

Ich schreibe diesen Beitrag zum Gedankenjahr 2005 nicht, um Politiker anzugreifen oder anzuklagen. Gerade in der jüngsten Vergangenheit haben Länder und Städte, wie Wien, Graz und Innsbruck, aber auch die Republik große Schritte zur "Normalisierung" unternommen. Vieles ist geschehen. Es gab zahlreiche Berichte, vor alle in den Printmedien, zu den Themen Schoah, Restitution und II. Weltkrieg. Wer's noch immer nicht wusste, es aber wissen wollte, der hatte jede Menge Gelegenheit, sich der Geschichte zu stellen. Und dennoch: Man kann sich dem Eindruck nicht entziehen, dass das Ziel, die Köpfe zu entrümpeln und frischen, gesünderen Gedanken und Positionen Platz zu machen, nicht erreicht ist.

Mehr noch: Die immer wieder zu hörende Forderung, einmal müsse doch "Schluss sein" beweist, dass die Zeit für den Schlussstrich noch nicht gekommen ist, denn solche Aussagen signalisieren: "Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem dies kroch."

Demokratie leben

Vor 60 Jahren wurde Österreich vom Nazi-Joch befreit. Vor 50 Jahren erlangte das Land seine Freiheit und seine Selbstbestimmung wieder. Damals hat es sich selbst und der Welt versprochen, seine Geschicke nicht autoritär, nicht faschistisch, nicht nazistisch und nicht bolschewistisch, sondern demokratisch zu gestalten. Demokratie - und sie bzw. deren Wiedererrichtung ist's in Wirklichkeit, die wir nun feiern - reduziert sich nicht auf das Kreuzerlmachen auf Wahlzetteln. Demokratie manifestiert sich als gemeinsamer Wille der Bürger eines Staates, die Freiheit und die Gleichheit aller, die in ihm leben, zu verteidigen und immer wieder zu bestätigen. Demokrat zu sein bedeutet, Demokratie nicht nur zu spielen, sondern zu leben. Und dazu gehört auch und nicht zuletzt: nichts zu tolerieren, was ihre Fundamente bedroht.

Darum geht es in diesem Jahr, das ist's, was wir "bedenken" sollten. (DER STANDARD, Print-Ausgabe, 4.5.2005)