Die Bildungsministerin sieht wenig Interpretationsspielraum: "Jeder Mensch in Österreich weiß, was ein differenziertes Schulsystem ist", sagte Elisabeth Gehrer, als sie am Donnerstag den Verfassungskompromiss über die künftigen Schulgesetze vorstellte. Dass die ÖVP daran herumdeuteln und die Gesamtschule einführen würde, hatte ohnehin keiner erwartet.

Die SPÖ schon gar nicht. Sie hat - in der Erwartung, dass sie in absehbarer Zukunft über eine Regierungsmehrheit verfügen wird - dem Kompromiss zugestimmt, dass "der Gesetzgeber . . . ein differenziertes Schulsystem vorzusehen" hat, innerhalb dieses differenzierten Systems aber weit gehende Gestaltungsfreiheit für den einfachen Gesetzgeber herrscht. Gegner der Gesamtschule - wie etwa die FPÖ-Politiker Heinz-Christian Strache und Barbara Rosenkranz - haben schon Albträume und warnen laut: Die offenbar bewusst vage gehaltene Formulierung könnte eine politische Hintertüre für die Einführung der Gesamtschule sein. Die Befürworter sehen das ähnlich, hüten sich aber davor, darüber allzu laut zu jubeln.

Nach Lesart der sozialdemokratischen Bildungspolitiker ist der Spielraum für Interpretationen nämlich nicht gar so gering wie Gehrer verkündet (und die Grünen fürchten): Viele kleine Organisationsreformen würden bei entsprechendem politischem Willen und entsprechenden (einfachen) Parlamentsmehrheiten durchaus die Möglichkeit schaffen, das österreichische Schulsystem an jenes des Pisa-Siegers Finnland anzugleichen - man muss ja nicht gleich in dicken Lettern "Gesamtschule" auf das Paket draufschreiben.

Von dem Begriff kann man sich getrost verabschieden - was zählt, ist das Ergebnis. Und da darf man auf die Kreativität der Schulpolitiker hoffen, die künftig ohne übertriebene Rücksichtnahme auf eine andere Großpartei ans Reformieren gehen können. Und wohl auch werden.

Das kann im Extremfall dazu führen, dass die Modelle, nach denen unterrichtet wird, alle paar Jahre - wenn die Parlamentsmehrheiten wechseln - geändert werden. Das mag vielleicht für die betroffenen Lehrer eine mühsame Umstellung bedeuten.

Aber wenn weite Bereiche der Schule jeweils nach aktuellen politischen Moden in die eine oder andere Richtung umgekrempelt werden, dann ist zumindest die Gefahr gebannt, dass das Schulsystem verstaubt und verknöchert.

Der aus großkoalitionären Zeiten stammende Zwang ist weg. Man muss nicht mehr mit allen Reförmchen warten, bis in einem meist recht unsachlichen Interessenausgleich eine Zweidrittelmehrheit für ein Schulpaket zustande kommt, mit dem alle Parteien und die von ihnen mit vertretenen Interessengruppen gut leben können.

So entsteht politischer Wettbewerb: Wer gerade die Mehrheit hat, kann seine Vorstellungen von Schulautonomie, von inhaltlicher Profilierung und äußerer Differenzierung ebenso durchsetzen wie seine Vorstellungen von Schulzeit und Förderunterricht. Wird das Ergebnis in der Praxis nicht für gut befunden, wird es eben wieder abgewählt - eine Chance hat es aber bekommen.

Und weil niemand aus rein ideologischen Gründen Schulreformen macht, wird das Hin und Her der Reformwellen auch nicht so schlimm werden. Wenn die jetzige Unterrichtsministerin wie angekündigt die flächendeckende Fünftagewoche, das verpflichtende Betreuungsangebot für Nachmittage, die Evaluierung von Schulen oder die Einführung von Bildungsstandards mit einfachgesetzlicher Mehrheit durchsetzt - wird das vom nächsten, vielleicht dann nicht mehr ÖVP-nahen Minister völlig umgekrempelt werden?

Wahrscheinlich nicht. Und mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Veröffentlichung der Pisa-Daten (weiß noch jemand außerhalb des Schulsystems, worum es da ging?) wird man auch wieder sachlicher und mit weniger Aktionismus an Schulreformen herangehen. Denn schließlich geht es um die Schüler, nicht um Testergebnisse. (DER STANDARD-Printausgabe, 6.5.2005)