In seinem Gastkommentar "Deutsche Moral fürs Kapital" (6. 5.) beschwert sich Alfred Pfabigan darüber, dass der SPD-Vorsitzende Franz Müntefering der ethischen Frage auswich, "warum es eigentlich unmoralisch sei, eine Firma aus dem reichen Südbayern ins arme Nordchina zu verlegen". Von der "weithin akzeptierten Position des Utilitarismus" aus ließe sich darüber trefflich diskutieren. Müntefering jedoch hätte sich der Diskussion verweigert, indem er kaltschnäuzig erklärte, als deutscher Politiker habe er die Interessen deutscher Arbeitnehmer zu vertreten und dafür zu sorgen, dass die Arbeitsplätze im Land bleiben – Punkt.

Damit ist das Spielfeld frei für zumindest zwei dringende Interventionen: erstens, Pfabigans moralische Denksportaufgabe zu lösen und zweitens Münteferings "dogmatischen Abbruch" des moralischen Räsonierens als legitimes Bekenntnis zur politischen Lösung der kapitalistischen Krise zu rechtfertigen.

Zunächst sei in knapper Form der Beweis geführt, dass selbst nach der strengen Rechnung eines Jeremy Bentham die Summe des globalen Glücks kleiner wird, wenn sich alle nach den niedrigen Löhnen Nordchinas orientieren. Wie mittlerweile selbst von neoklassischen Ökonomen akzeptiert, bildet sich das Lohnniveau aus den gesellschaftlich bestimmten Reproduktionskosten der Arbeitskraft. Das heißt, der Lohn eines nordchinesischen Arbeiters in einem neu in China angesiedelten bayerischen Motorenwerk wird sich grundsätzlich danach orientieren, was Arbeiter in dieser Region durchschnittlich zum Leben brauchen und vielleicht noch ein bisschen was draufschlagen, um die Bindung an die Firma zu erhöhen.

In Süddeutschland ist der Lebensstandard nicht zuletzt aufgrund sozialstaatlicher langfristiger Umverteilung so weit gestiegen, dass der jährliche Urlaub im All-Inclusive- Club, genügend Freizeit inklusive teurer Hobbys, vielleicht ein kleines Häuschen und in jedem Fall ein fesches Auto auch für Arbeiterfamilien im Bereich des Üblichen ist. In China wird sich die neu angeworbene Arbeiterin oder der Arbeiter darüber freuen, wenn sie eine kleine Wohnung im Plattenbau beziehen und ihren Kindern eine einigermaßen "moderne" und "urbane" Zukunft jenseits der ländlichen Subsistenz bieten können. Längere Arbeitszeiten als in Deutschland und keinerlei politische Freiheiten sind inklusive. Von Luxus keine Spur.

Globalisierung . . .

Das heißt, der Lohn ist nicht nur in absoluten Zahlen kleiner (weil ja auch alles andere billiger ist), sondern er ermöglicht den Menschen in China auch nicht die gleiche Lebensqualität wie den Arbeitnehmern in Deutschland, sondern lediglich eine "Existenz". Ergo: irgendwo auf dem Weg ist die Summe des Glücks kleiner geworden. Quod erat demonstrandum.

Was Franz Müntefering nun in einem wiedergefundenen Selbstbewusstsein der "Kapitalismuskritik" anprangert, ist die Argumentation der deutschen Kapitalisten: Der Lebensstandard deutscher Arbeiter und Angestellter sei einfach "zu hoch", man müsse sich der Konkurrenz mit (zum Beispiel) China stellen und längere Arbeitszeiten, niedrigere Löhne, geringere Sozialleistungen etc. akzeptieren, wenn man als "Standort" überleben wolle.

Müntefering argwöhnt zu recht, dass das Glück nicht von Bayern nach China auswandert (was ja moralisch ein Nullsummenspiel und damit akzeptabel wäre), sondern durchaus in Deutschland bleibt: es wandert von den Arbeitnehmern in die Chefetagen des Kapitalmarktes.

Das Argument der "Moral" ist in diesem Zusammenhang ein in erpresserischer Absicht angewandter Taschenspielertrick: Es sind nicht die Chinesen, die irgendwem Arbeitsplätze wegnehmen, sondern tatsächlich jene Kapitalisten, die die deutschen (österreichischen, französischen, ...) Arbeitnehmer/innen gegen die chinesischen (indischen, burmesischen, ...) ausspielen.

Müntefering entzieht sich deshalb der moralischen Reflexion und greift auf die alte Einsicht zurück, dass Gesellschaft wesentlich politisch ist und dass es in der Politik um die Austragung von Interessens- und Ideologiekonflikten geht.

Dies ist nicht beruhigend, aber eine ehrlichere und die Wahrheit besser widerspiegelnde Haltung als jene, der Alfred Pfabigan anzuhängen scheint. Denn es ist in höchstem Maße naiv, zu glauben, die Gesellschaft brauche nichts anderes als universale Menschenrechte und einen freien Markt, damit sich die Debatte um das "Ganze, um das es in der Globalisierungsdebatte ja zwingend geht" (Pfabigan) entfalten könne. Dieses Ganze ist eben leider eine Fiktion, insoweit es als gemeinsamer globaler Markt definiert wird.

. . . des Glücks?

Wenn der deutsche Politiker darauf besteht, dass es ihm um deutsche Arbeitsplätze geht, dann zeigt er damit einfach auf, dass die Marktlogik eben nicht widerspruchsfrei ist, sondern Widersprüche erzeugt. Der Markt denkt nicht nach über die Gesellschaft, das muss schon der Mensch übernehmen.

Und wenn in Frankreich die drohende Ablehnung der EU- Verfassung durch das Volk dazu geführt hat, dass Jacques Chirac panikartig die geplante Liberalisierung des EU- Dienstleistungssektors für null und nichtig erklärt hat, dann demonstriert dies nur, dass die Globalisierungsdebatte beginnt, politisch zu werden. Und Politik heißt Mobilisierung, Kampf um Macht und um ideologische Hegemonien. Das ist nicht beruhigend. Aber es ist zugleich der Kern dessen, was wir Demokratie nennen. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.5.2005)