Es ist in der Geschichte der EU ein wohl einmaliger Schritt, einem Mitgliedsland drastische Sanktionen für den Fall anzudrohen, dass es eine Regierung bilden sollte, die nicht den Vorstellungen der übrigen Mitgliedsstaaten entspricht. Die Erklärung der 14 EU-Staaten vom 31. Jänner 2000 unter dem Vorsitz des portugiesischen Ratspräsidenten könnte noch ungeahnte Folgewirkungen nicht nur für Österreich, sondern auch für die EU haben und scheint zusehends den Zusammenhalt, möglicherweise die Existenz der EU zu bedrohen.

Interessant, dass der französische Präsident Chirac am 9. Februar 2000 als Begründung der Sanktionen nachlieferte, dass Österreich einen Vertragsbruch begangen habe (Verletzung des Artikels 6 des EU-Vertrags). Tatsächlich stellt sich die rechtliche Situation wohl umgekehrt dar: Werden doch durch die EU-Sanktionen von 14 Mitgliedsstaaten gegen den 15. (Österreich) tragende Grundsätze des europäischen Gemeinschaftsrechts verletzt und einschlägige Bestimmungen missachtet.

Artikel 6, Absatz 1 des Vertrags über die Europäische Union lautet wörtlich: "Die Union beruht auf den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit; diese Grundsätze sind allen Mitgliedsstaaten gemeinsam."

Die für EU-Verhältnisse überfallartig durchgeführte konzertierte Aktion gegen Österreich wirft - über den Anlassfall hinausgehend - zahlreiche grundsätzliche Fragen auf, die im Ergebnis den "EU-Spieß" ins Gegenteil verkehren könnten.

Offensichtlich fehlt hier ein verbindlicher und ausführlicher Rechtskodex der EU, der dem hohen europäischen Rechtsstandard entspricht. Liegen nicht gerade darin in Wirklichkeit die viel beschworenen, unverkennbaren "europäischen Werte" begründet?

Trotz offenbarer Umgehung der ohnehin kargen EU-Rechtsnormen rührt die Aktion der 14 EU-Staaten prinzipiell am allgemein anerkannten europäischen Rechtsbestand. Die offiziell "bilaterale Aktion" ist nicht direkt in völkerrechtlichen Kategorien zu messen, verstößt aber eklatant gegen die Grundströmung und den Geist der europäischen Rechtsentwicklung.

Demokratische Wahlen sind anzuerkennen

1. Wo bleibt das hoch geachtete demokratische Prinzip, dem sich Europa in seiner ganzen Entwicklung zutiefst verpflichtet fühlt? Unbestritten demokratische Wahlen wie in Österreich sind nun einmal anzuerkennen, selbst wenn es einem (politisch) nicht passt, auch wenn der Wahlsieger ein anderer ist, als man es sich gewünscht hat.

Gerade Österreich hat aus seiner Geschichte gelernt und schützt die Demokratie seiner Zweiten Republik durch ein strenges Verbotsgesetz, das jede nationalsozialistische Tätigkeit irgendeiner Partei mit rechtsstaatlichen Mitteln unterbinden würde und die Kandidatur solcher Parteien untersagt (vergleiche NDP-Verbot). Kaum ein anderer Staat weist solch klare Regelungen auf. Bei irgendeinem konkreten Anlassfall wäre die bisherige SP-VP-Regierung zweifellos aktiv im Sinne eines Verbotes geworden. Nicht demokratisch legitimierte Parteien haben tatsächlich nichts in unserem Parteienspektrum verloren, alle anderen aber können sich auf dem Boden der geltenden Verfassung bewerben und bewähren. Dies entspricht auch dem Gedanken der Freiheit, der freien Meinungsäußerung und der pluralistischen Demokratie, also unverzichtbaren Grundfesten unseres demokratischen Lebens.

2. Auf dem Rechtsstaatsprinzip, einer schrittweise und mühsam erworbenen abendländischen Errungenschaft, bauen die europäischen Staatsverfassungen und das Gemeinschaftsrecht auf: Dies wird auch im Artikel 6 Absatz 1 des EU-Vertrags betont. Wo ist aber vor den lautstark verfügten Sanktionen ein ordnungsgemäßes Verfahren geblieben? Wieso wurde einem Land die Verteidigungsmöglichkeit genommen? Warum blieb der durch die Jahrhunderte erkämpfte Rechtsgrundsatz "audeatur et altera pars" (auch die andere Seite ist jeweils zu hören) auf der Strecke?

Was für jede einzelne beschuldigte Person als selbstverständlich gilt, wird einem bisher unbescholtenen Gemeinwesen wie Österreich plötzlich nicht zugestanden? Noch dazu, wo es sich anscheinend um hartnäckig gepflegte Vorurteile handelt: War doch die Regierungserklärung noch gar nicht unterschrieben und die Präambel zum Koalitionsprogramm als Grundsatzbekenntnis zu Toleranz und Demokratie noch nicht veröffentlicht!

Was also waren die "Anklagepunkte"? Welche präzisen Vorwürfe gegen die neue Regierung wurden gefunden? Auf welchen Sachverhalt stützte sich die Anklage? Welchen verwerflichen Tatbestand konnte man benennen? Alles entscheidende Voraussetzungen für ein ordentliches rechtsstaatliches Verfahren, will man sich nicht dem Vorwurf von Vorverurteilungen oder gar eines "Femegerichtes" aussetzen.

Der Verteidigung blieb keine Chance, ihr wurde keine Möglichkeit der Darstellung eröffnet, auch bilaterale Kontakte wurden untersagt. Hat nicht bei schweren Vorwürfen jeder Staatsbürger ein Recht auf einen Pflichtverteidiger, notfalls sogar von Amts wegen? Aber einem ganzen Staatswesen wird dies offensichtlich nicht zugebilligt.

Trotz absehbarer Folgewirkungen für das betroffene Land wurde hier eine Einseitigkeit demonstriert, die jedem Rechtsstaatsgedanken Hohn spricht und den Sachverhalt im Unklaren lässt. Pauschalverdächtigungen genügen sicher nicht, politische Hüftschüsse sind aber - wie die Geschichte lehrt - meist unangebracht, gefährlich oder entlarvend.

3. Selbst ein verfahrensrechtlich wichtiger Grundsatz innerhalb von EU-Gremien wurde vernachlässigt. In wichtigen Angelegenheiten hat der Rat einstimmige Beschlüsse zu erwirken, und die Beteiligung des EU-Parlaments ist vorgesehen. Auch wenn das "Statement des portugiesischen Ratspräsidenten im Namen von 14 Mitgliedsstaaten" offensichtlich bewusst im rechtlichen Graubereich angesiedelt blieb: Sollten solch einschneidende Maßnahmen mit möglicher oder beabsichtigter Präjudizwirkung nicht umso eher von allen Mitgliedsstaaten getragen werden?

Nur in gravierenden Fällen erwiesener schwerer und anhaltender Verletzungen der Grundrechte nach Artikel 6 muss die Stimme des betroffenen Mitgliedsstaates nicht berücksichtigt werden. Jedenfalls wurde Artikel 7 leg. cit. mit seinem zweistufigen Verfahren weder beachtet noch eingehalten, sondern eine überhastete Vorgangsweise außerhalb bestehender Normen gewählt. Wie vertrauensbildend können solche Contra legem-Maßnahmen für kleine Staaten oder für Beitrittswerber sein?

4. Seit dem Vertrag von Maastricht (Artikel 3 b EG-Vertrag), und noch deutlicher seit Amsterdam bekennt sich die EU ausdrücklich zum Subsidiaritätsprinzip: Demnach soll die Gemeinschaft nur so weit tätig werden, als ein Problem von einem Mitgliedsstaat nicht ausreichend bewältigt und auf europäischer Ebene besser gelöst werden kann. Österreich konnte seine demokratiepolitischen Aufgaben bisher ohne Hilfe von außen zufriedenstellend lösen. Der soziale Frieden war in Österreich wie in kaum einem anderen Land gegeben. Der päpstliche Ausspruch von der "Insel der Seligen" war bezeichnend für ein funktionierendes und prosperierendes Gemeinwesen.

Wenn man diesem Land nicht zutraut, seine Probleme selbst zu lösen, wo sind dann in Zukunft die Grenzen für Belehrungen, Eingriffe und Maßregelungen von oben und außen? Die staatliche Souveränität gilt bis auf weiteres und zumindest noch so weit, dass solche EU-Aktionen als unzulässige Einmischungen in die inneren Angelegenheiten eines kleinen Staates empfunden werden. Hat das Subsidiaritätsprinzip nur für feierliche Erklärungen Bedeutung, während sich die EU-Wirklichkeit über diesen elementaren Grundsatz gegen zentralistische Tendenzen und obrigkeitsstaatliche Allüren hinwegsetzt?

Was folgt nach dem "Präjudiz Österreich"?

Die Frage bleibt: Werden sich die EU-Bürger in den einzelnen Mitgliedsstaaten und Regionen diese Missachtung und Verletzung tragender europäischer Grundprinzipien auf Dauer gefallen lassen? Nach diesem "Präjudiz Österreich" müssen sich andere Länder und Regionen nun zu Recht fragen: Welche konkrete Geltung haben die fundamentalen, gewachsenen und unbestrittenen Rechtsgrundsätze in der Europäischen Union eigentlich noch?

Fragen, die inzwischen etwa in der Schweiz, in Dänemark oder Finnland heftig und kritisch diskutiert werden. So hat erst kürzlich der ehemalige finnische (sozialistische) Staatspräsident Mauno Koivisto die Sanktionen gegen Österreich als "Fehlgeburt" bezeichnet. Die Bedenken kleinerer Länder bleiben und werden mit Aufrechterhaltung der Sanktionen wachsen: Wann sind wir bei einer etwaigen EU-missliebigen Regierungsbildung am Pranger und können uns dagegen gar nicht wehren?

DDr. Erwin Schranz ist Präsident des burgenländischen Landtags.